Viertes Buch: VII. VIII. 215
von einer außerordentlichen Offenbarung; beide muthen ihren Be⸗
kennern den Glauben an die Aechtheit derselben zu. Oder viel⸗
mehr derselbe vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht12) unan—
gefochten, so lange die Kritik der mündig werdenden Vernunft
sich nicht regt. Aber grade weil hier wie dort die Ansprüche
chatsächlich die nämlichen sind, logisch aber dieselben sich aus—
schließen, möglicher Weise nur der von der einen Religion er—⸗
hobene begründet ist, aber auch die Ansprüche beider unbegründet
sein können: ist die Prüfung dringendes Bedürfniß. Sie wird sich
nicht damit begnügen, die Glaubwürdigkeit der historischen Tra—
dition auszumitteln; sie wird weiter alles Religionsgeschichtliche
an der über aller Geschichte stehenden Idee der Religion!2) zu
messen haben. Ein Versuch dieser Art ist allerdings in den ersten
Capiteln „des Gesprächs“ von den Unterrednern gemacht. Aber
zu dem gleichen Verfahren die Gebildeten der Gegenwart über—
haupt anzuleiten, scheint der höchste Zweck desselben zu sein15).
Sie alle sollen die quälenden Fragen kennen lernen, welche die
dermalige Culturwelt bewegen, die kecke Sprache der Freidenker
hören, welche alle positive Religion läugnen, die natürliche für
die einzig sichere, vollkommen ausreichende erklären. Es ist die
höchste Zeit, daß Jeder, welcher der höheren Gesellschaft ange⸗
hören will, sich dazu vorbereite, auf die religiöse Tagesfrage eine
haltbare Antwort geben zu können.
VIII.
Schreitet man doch in allen Dingen fortt). Und auf reli—
ziösem Gebiete allein sollte ein Stillstand möglich sein? — Viel—⸗
nehr muß die Aufklärung auch auf diesem verbreitet werden
anter Absehen von allen Vorurtheilen, in welche Erziehung und
Gewohnheit, Hörensagen und Tradition uns verstrickt haben?).
Jedem Manne von Bildung, welcher meint zu einer der über⸗
lieferten Religionen sich bekennen zu können, muß dieses Bekenntniß