248 Viertes Buch: XVI.
Das Dunkel war nunmehr gelichtet, welches den Gott des alten
Himmels barg!?): man schaute nicht mehr seine Gestalt im
Spiegel des Glaubens, man schaute ihn selbsta8). In dem Him⸗
mel, in der Hölle wußte man nunmehr vollständig Bescheids)
und gab denselben Anderen. Nicht in den Hörsälen allein sollte
das Evangelium der Aufklärung verkündigt werden; diese jungen
Lehrlinge waren freilich, wie sie selber meinten, schon Gelehrte,
wurden aber zugleich Apostel, den neuen Messias des Wissens
auch dem gemeinen Manne20) zu predigen in neuen Zungen.
Ihre Predigt war nicht ausschließlich lehrhaft, sie wurde das
wirksamste Mittel einer zudringlichen Agitation.
Also begreift man, daß der Satz, ob der alte Glaube, ob
der neue? als die wichtigste Tagesfrage in ganz Frankreich da⸗
mals erörtert werden konnte. Auf Landstraßen und in den Häusern,
in Dörfern und in Städten wurde disputirtz 1); eine kühle Kritik
rat an die Stelle der scheuen Verehrung; der alte Autoritäts-
glaubez2) schien selbst in den unteren Volksschichten für immer
dahin zu sein. Selbst die Frauen3), welche nicht zurückbleiben
vollten, fanden es behaglicher, auch in religibsen Dingen die Mode
mitzumachen. Wenn ein Sendling Abälard's eintraf, wollten auch
sie ihn hören. Und nun gar, wenn er persönlich hier oder dort
erschien! — Den Geliebten Heloise's, den Sänger der Liebe, den
berühmtesten Mann des Jahrhunderts, ja aller Zeiten, den Helden
der Culturgeschichte zu sehen, — wer hätte sich das versagen
können? — Man eilte auf die Straße, man reckte den Hals,
schärfte das Auge; ein König konnte nicht glänzender ein- und
ausziehen als dieser Mönch24).
Alle Welt lief ihm nach. Und wer nicht sehen konnte, wollte
doch wenigstens lesen. Welche Nachfrage nach seinen Büchern! —
Sie flogen2s) von einer Hand in die andere in den Städten, in
den Schlössern, auf den Verkehrsstraßen, nicht in Frankreich allein;
Bestellungen über Bestellungen wurden in dem ganzen gebildeten
Europa gemacht. Exemplare über Exemplare wanderten über