96 Bedeutung der Natur für die Religion.
Gefühl für die Einheit der Welt zurückführen müssen, daß die Tendenz
zur Zersplitterung vielfach vor den großen Göttergestalten Halt gemacht
hat. In der gleichen monistischen bzw. monotheistischen Kichtung wirkt
schon früh der erwachende Trieb zur Spekulation. In Indien sind schon
im Rigveda die alten Göttergestalten, die nie die feste Linienführung der
griechischen Plastik zeigten, ins Schwanken und Fließen geraten. Die
Sänger gefallen sich darin auszusprechen, daß dieser Gott auch das ist,
was der andere, daß Agni Varuna ist, wenn er geboren wird, Mitra,
wenn man ihn entflammt, Indra für den Sterblichen, der ihm huldigtiaui).
Tbenso erscheint Marduku⸗)) als Erleuchter der Nacht (Sin), als Samas
in Bezug auf Recht, Adad in Bezug auf Regen usw. Genau das Gleiche
gilt für Agypten. Der indische Einheitshymnus!is) faßt das Leitmotiv
kurz zusammen: „Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter“. Die
neue Großmacht des auf Einheit gerichteten Denkens ist damit auf den
Plan getreten. Werden ihr gegenüber die alten Naturgottheiten sich be—
haupten können? Es sind ganz neue Fragen, die damit auftauchen, und
wir brechen daher an diesem Punkte ab und wenden uns unserer zweiten
Frage zu, dem Problem des religiösen Selbstbewußtseins.
Sehr beachtenswert ist es ohne Zweifel, wenn ein ethnologischer Sor—
scher wie K. Th. Preuß die Thesen vertritt, daß Menschwerdung und KReli—
gion zusammenfalle, daß Religion das heraustreten aus der Tierheit bedeu⸗
tetiu0). Damit ist jedenfalls die Bedeutsamkeit unserer Frage aufs stärkste
unterstrichen. Nun fanden wir in unserer Untersuchung einen primitiven
Zustand des menschlichen Selbstbewußtseins, in dem dies seine Eigenart
noch nicht erfaßt hat, sondern naiv das Tier mit sich selbst gleichstellt
und auch das Göttliche in Tiergestalt anzuschauen liebt; aber es kam
dann die Zeit, in der die Idee der Gottheit mehr und mehr von den
Idealen des Menschen aus erfaßt wurde, und die Gleichstellung von Tier
und Mensch unverständlich, ja anstößig geworden istits). Diese Zeit da—
tiert von der Periode der großen Lichtgottheiten an, und ein Susammen⸗
hang dieser eigenartigen Tatsachen ist von vornherein nicht unwahrschein—
lich. Erste Voraussetzung ist dabei eine Kulturentwicklung, in der der
Mensch sich zum Herrn der Erde gemacht hat. Das berühmte Chorlied
aus der Antigone des Sophokles spricht es stolz aus, daß unter dem
vielen Gewaltigen, das die Erde trägt, doch nichts gewaltiger ist als
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141) Oldenberg, Religion d. Veda, 5. 100.
142) Vgl. den merkwürdigen Hymmus bei Greßmann a. a. O. s. 100.
148) Rigveda J, 164 v. 106.
144) Archiv f. Religionswissenschaft 21, 185
146) Oben S. 59.