Full text: Natur und Gott

224 Wissenschaftl. u. relig. Naturanschauung i. d. Geschichte. 
das Buch der Natur galt seit alten Zeiten als vom Finger des Herrn 
geschriebeneo), aber ein wirklicher Widerspruch dieses Buches mit der 
Bibel als dem Worte Gottes galt für unmöglich, und in Zweifelsfällen 
war, wie Augustin festgestellt hatte, die biblische Autorität über die 
Vernunft zu stellen. Man konnte aber, ohne vom kirchlichen Boden 
abzuweichen, das Verhältnis beider „Bücher“ zueinander auch in an— 
derer Weise auffassen, wie es Raymundus Sabieude in seinem berühmten 
„Buch der Natur oder der Kreaturen“ (1436) getan hat?o). Er meint 
zwar, daß die Natur, der Inbegriff der Werke Gottes, für die durch die 
Erbsünde verfinsterte Vernunft erst durch die Bibel, die zweite höhere 
Offenbarung für uns, ins rechte Licht gesetzt ist, aber das Buch der 
Natur, von Anbeginn an gegeben, sei allen Menschen gemeinsam, könne 
auch nicht verderbt, verfälscht, mißverstanden werden, selbst durch Ketzer 
nicht, wohl aber das andere Buch, das nur Kleriker lesen können. Den⸗ 
noch rühren beide Bücher von Cinem göttlichen Urheber her und wider— 
sprechen einander nicht. Es sind in verschärfter Form dieselben Gedanken, 
die Galilei in mehreren Schreiben vorträgt: Die hl. Schrift habe den 
Zweck, die Menschen von jenen Wahrheiten zu überzeugen, welche für 
ihr Seelenheil notwendig sind und alle menschliche Fassungskraft über— 
schreiten; aber für die Erlangung anderer Kenntnisse habe uns Gott 
mit Sinnen, Verstand und Urteilskraft ausgestattet. Aber die Bibel ak— 
kommodiere sich ihrem 5wecke gemäß oftmals dem Fassungsvermögen 
selbst ganz roher und ungebildeter Menschen und verlange daher an 
vielen Stellen eine andere Auslegung als der Wortsinn scheinbar besagt. 
Dagegen ist die Natur unwandelbar und bleibt unbekümmert, ob ihre 
berborgenen Gründe und Mittel, zu wirken, dem menschlichen Verstande 
faßlich sind oder nicht. Bei einem anscheinenden Konflikt zwischen Natur 
und Bibel handelt es sich nur darum, letzterer die richtige Auslegung 
zu geben. Sich auf die übereinstimmende Schriftauslegung der Väter 
zu berufen, die (in kopernikanischen Fragen) beim Wortsinn stehen blei— 
ben, sei nicht angängig, da die Väter die entgegenstehende Ansicht weder 
gründlich geprüft noch ausdrücklich verworfen hätten; er selbst versucht, 
Jos. 10 kopernikanisch zu deuten. Wolle man der Theologie das Recht vin⸗ 
dizieren, nach ihren Dekreten auch die Lehren der andern Wissenschaften 
sich unterzuordnen, so wäre es dasselbe, wie wenn ein absoluter Fürst, 
ohne Arzt oder Architekt zu sein, verlangen wollte, daß man nach seinen 
Dekreten sich kurieren oder Gebäude aufführen solle. Das bekannte 
238) Vgl. oben s. 190; über die Bedeutung der ratio S. 192f. 
240) Doch ist 1595 der Eingang der Schrift RKaymunds auf den Inder der 
verbotenen Bücher gesetzt. 
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