Full text: Natur und Gott

274 Wissenschaftl. u. relig. Naturanschauung i. d. Geschichte. 
Sinne der Vorrang abgestritten würde, und sind organische Naturbetrach— 
tung und Religion miteinander verschmolzen. 
14. Die Entwick ungstheorie und der Monismus. 
Indes mußte, ehe es zu wirklichem Frieden zwischen religiöser und 
naturwissenschaftlicher Weltansicht kommen konnte, der Gegensatz zwi⸗ 
schen ihnen noch weit schärfer herausgearbeitet werden. Goethe selbst 
hat noch den Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St. hHilaire erlebt 
und dargestellt. Während letzterer eine, Fortbildung der Lebe— 
wesen annahm, deren Hauptursache er in der fortschreitenden Entwick— 
lung des Erdballs sah, hielt Cuvier an der Unveränderlichkeit der Arten 
fest und ließ diese unabhängig voneinander in verschiedenen Epochen 
entstehen. Das Auftreten immer neuer und höherer Lebewesen in den 
aufeinanderfolgenden Erdperioden erklärte er durch eine Reihe aufein— 
anderfolgender Neuschöpfungen, über die er sich immerhin sehr vorsichtig 
ausgedrückt hat. Schon vorher hatte Lamarcktos), den Goethe anschei— 
nend nie erwähnt, auf den aber heute die wissenschaftliche Forschung viel— 
fach zurückgreift, in seiner philosophie z200logique (1809)300) die fort— 
schreitende Abstufung der Organisation als eine einzige, bis zum Men— 
schen aufsteigende Reihe aufgefaßt, als „eine Folge des unabänderlichen 
Planes, den die Natur befolgt“ betrachtet und auf „den Willen des er— 
habenen Urhebers aller Dinge“ zurückgeführt. Nur soll dieser Wille 
nicht so gedacht werden, daß er jede Einzelheit für sich, sondern so, 
daß er die allgemeine Ordnung aller Dinge gesetzt hat; die Natur hat 
mit den unvollkommensten und einfachsten Tierarten begonnen und mit 
den vollkommensten aufgehört. Dies Fortschreiten der Verwicklung der 
Organisat'on unterliegt hie und da in der allgemeinen Tierreihe Un— 
regelmäßigkeiten, die durch den Einfluß der Verhältnisse des Wohnorts 
und durch den der angenommenen Gewohnheiten verursacht sind. Die 
niedern Tiere bis zu den Würmern und die Pflanzen, die er alle jeder 
Empfindung bar („apathisch“) erachtet, denkt L. den Verhältnissen und 
ihrer umbildenden Wirkung passiv unterworfen. Dagegen sind die sen— 
408) Zur Geschichte der Deszendenztheorie vgl. Em. Radl, Geschichte der 
biologischen Theorien 1905— 1909; 2. Aufl. 1913, auch den AKufsatz des gleichen 
Autors „SZur Geschichte der Biologie von Linns bis Darwin (Kultur der Gegen— 
wart IV, J s. 1-529); erwähnt sei, daß Adolf Hansen (Häckels Welträtsel und 
herders Weltanschauung 1909) schon bei Herder alle Bausteine der Deszendenz— 
theorie und zwar „in völlig vollendeter Form“ ausgesprochen findet, wenn auch 
noch nicht zu abgerundeter Theorie zusammengefaßt (5. 14). Über Lamarck vgl. 
besonders Adolf Wagner, Geschichte des Camarckismus 1909 5. 25-62. 
408) Deutsch von Arnold Lang, 1878. 
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