302 Das physidalisch⸗chemische Weltbild.
aber die Bewegungen der wirklichen Welt sind weit komplizierter; um
ihre Gesetzmäßigkeit festzustellen, bedurfte es ganz neuer Rechnungs—
arten, deren entscheidenden Grundgedanken wir uns in einem modernen
Bilde leicht veranschaulichen können. Man photographiert heute durch
den Schnellphotographen die Bewegung eines Pferdes hundert und mehr
Male nacheinander in einer Sekunde. Läßt man nun die erhaltenen
Bilder in ihrer ursprünglichen Reihenfolge und in einer für unser
Auge angemessenen mäßigen Geschwindigkeit im Kinematographen auf—
einander folgen, so können wir den Bewegungsvorgang in Muße be—
trachlen; ebenso gewinnt die Mechanlk volle Einsicht in die Bewegungs—
vorgänge, indem sie rechnungsmäßig kürzeste Momentbilder des Bewe—
gungsvorganges erzeugt (seine „Differentiale“ nach der Zeit aufsucht)
und diese dann wieder in gehöriger Ordnung zum einheitlichen Bewe—
gungsvorgange zusammenstellt (sie „integriert“). Die Integration ist also
ein Summierungsvorgang, unterscheidet sich aber von der gewöhnlichen
Addition dadurch, daß die Differentiale in geordneter Keihenfolge zu—
sammengefügt werden müssen, wie im Kinematographen die HRufnah—
men des galoppierenden Pferdes. Ebenso sind die Differentiale von an⸗
dern Teilungsquot'enten dadurch verschieden, daß sie der Idee nach „un⸗
endlich klein“ gemacht sind, d. h. dem Bewegungsvorgange bis in seine
Grundelemente und in seine letzten Feinheiten genau zu folgen vermö—
gen. Wie nach der Zeit, lassen sich die Bewegungsvorgänge natürlich
auch nach jedem beliebigen, für sie wesentlichen Gesichtspunkte, etwa
nach dem Raume oder nach der Wirkungsgröße (etwa dem Druck oder
der elekcerischen Kraft usw.) in kleinste („unendlich kleine“) Teile (Diffe—
rentiale) teilen und aus solchen wieder zusammensetzen (integrieren).
Cbenso kann man den Bewegungsvorgang in seinen Grundelementen
beliebig variieren — ob dieses Gedankenoperieren faktisch ausführbar
ist oder nicht, ist nicht entscheidend — und kann so den Anteil der ein—
zelnen Komponenten am Gesamteffekt bloßlegen. Selbstverständlich
glückt die Einfangung der Wirklichkeit in dies Gedankennetz stets nur
unvollständig, kann aber im Prinzip bis auf jeden erwünschten Grad
von Genauigkelt vollzogen werden. So wird der Gedanke von Laplace')
verständlich, daß ein entsprechend umfassender Geist mit einem System
von Differentialgleichungen die gesamte Wirklichkeit aller Zeiten errech—
nen könne. Ob aber wirklich eine restlose Abbildung der Physik in der
mathematischen Formel stattfinde oder doch stattfinden könne, ist, wie
wir noch sehen werden, heute mehr denn je zweifelhaft.
Newton ist es nicht nur gelungen, Galileis Fallgesetze mit Keplers
8p Siehe oben S. 259.
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