Full text: Natur und Gott

Das Leben und seine Formen. 
usw.; ebenso hat jedes System einen ihm eigentümlichen Erregbarkeits— 
grad. Gleiches gilt naturgemäß von den Sinnesapparaten. Allerdings 
haben Helmholtz und du Bois-Keymond auf Grund der erwähnten be— 
sonderen Eigenschaften des Nervensystems angenommen, daß der Lei⸗ 
tungsvorgang in allen Nervenfasern gleichartig sei und haben die spezi— 
fische Energie der einzelnen Sinnesempfindungen in die zentralen Statio— 
nen der Großhirnrinde verlegt. Wenn die durchschnittenen Seh⸗ und 
hörnerven eines Menschen übers Kreuz vollkommen verheilten, so würde 
er mit den Augen den Blitz als Knall hören und mit dem Ohre den 
Donner sehen! (du Bois⸗Reymond). Lotze, Meynert, Wundt u. a. suchten 
diese Enteignung des Nervensystems auch auf die zentralen Teile aus— 
zudehnen und die speziellen Sinnesempfindungen in die peripherischen 
Aufnahmeorgane der Sinne zu verlegen. Wundt nahm an, daß auch die 
Derschiedenheit der Aufnahmeorgane erst durch die äußeren Keize aus— 
gebildet würde. Indes entspricht diese Auffassung nicht mehr den neueren 
Erkenntnissen. Nach der Neuronenlehre sind die Nervenfasern nur be— 
sonders differenzierte Ausläufer der Ganglienzellen, die Neurone aber 
zeigen anatomisch eine große Sormverschiedenheit und können daher auch 
in der Funktion nicht völlig gleichartig sein. Diese Verschiedenartigkeit 
läßt sich heute auch demonstrieren. Gegen gleiche äußere Einwirkungen 
verhalten sich verschiedene Neurone verschieden. Die Zentren der Groß— 
hirnrinde beim Menschen stellen ihre Funktion wenige Sekunden nach 
Unterbrechung der Blutzirkulation ein. Störungen in der Funktion tiefer 
gelegener Zentren werden erst viel später bemerkbar. Gleiches gilt für 
Narkotika. Strychnin findet seinen Angriffspunkt ausschließlich in den 
sensorischen Zentren des Rückenmarks (des Frosches); umgekehrt er—⸗ 
regen gewisse Benzol-Derivate speziell die motorischen Vorderhornzellen. 
Also selbst in einfachen Keflexbögen des Rückenmarkes unterscheiden sich 
die einzelnen Neurone qualitativ⸗funktionell voneinander. Andererseits 
bedingt, wie gezeigt, eine Veränderung der inneren Lebensbedingungen 
des Systems eine Anderung auch der spezifischen Reaktionsweise. Das 
Gesetz der spezifischen Energie gilt also nur unter Voraussetzung gleicher 
funktioneller Zustände und der gleichen Entwicklungsphase, aber, dies 
vorausgesetzt, reagiert jedes lebendige System auf Reize aller Art stets 
primär mit einer Intensitäts⸗Anderung seines spezifischen CLebensvor— 
ganges. Auf diese Erkenntnis werden wir bei der Besprechung des Zen— 
tralnervensystems zurückgreifen; vorerst wenden wir uns den biologi— 
schen Fragen der Zeugung und Vererbung zu. 
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