Full text: Natur und Gott

430 Das Leben und seine Formen. 
allmähliche Auftauchen und die Entwicklung der geschlechtlichen Differen— 
zierung läßt sich aus Beobachtungen an gewissen Protozoen und nie— 
drigen Algen mit ausreichender Wahrscheinlichkeit rekonstruieren. Neben 
der Verschmelzung gleich großer, in nichts unterschiedener Individuen 
zeigen sich Fälle geringfügiger Differenzierung; insbesondere legen die 
Befunde an EAlgen die Annahme nahe, daß Eier und Samenfäden aus 
ursprünglich gleichartig beschaffenen Schwärmzellen entstanden sind, die 
sich nach entgegengesetzten Kichtungen geschlechtlich differenziert haben?). 
Daß auch bei schon eingetretener geschlechtlicher Differenzierung weib— 
liche SZeugungsgebilde sich gleichwohl auch ohne Verschmelzung mit Sper⸗ 
matozoen zu entwickeln vermögen, zeigen die nicht seltenen Fälle natür— 
licher wie auch künstlicher Parthenogenesess). Daß die Tendenz zur Ver— 
schmelzung zweier Zellen (Amphimixis) ihren guten Grund hat, wird 
sich nicht bezweifeln lassen, doch ist ein Einblick in die innere Notwendig⸗ 
keit der Borgänge noch nicht gewonnen. Spencer vermutete den Haupt— 
zweck der geschlechtlichen Zeugung in der Hherbeiführung einer neuen 
Entwicklung „durch Zerstörung des annähernden Gleichgewichts, auf 
welchem die Moleküle der elterlichen Organismen angekommen sind“, 
mithin in einem Verjüngungsprozeß. Wenn man aber beachtet, daß 
das Zeugungsprodukt am besten gedeiht, „wenn die zeugenden Indivi— 
duen und infolgedessen auch ihre Geschlechtszellen in ihrer RKonstitution 
oder Organisation nur unbedeutend voneinander verschieden“ sindso), so 
wird man die Tendenz zu erneutem, vielleicht stabilisiertem Gleichge⸗ 
wicht wohl nicht minder stark zu betonen haben. Deutlich zeigt sich jeden— 
falls, daß Selbstbefruchtung da, wo bereits Amphimixis möglich ist, 
im großen und ganzen ungünstig wirkt, und daß vielfach in der Natur 
Einrichtungen getroffen sind, um sie zu verhüten. Ebenso hat sich bei 
Tieren, die zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung 
wechseln, zeigen lassen, daß die Tendenz zur Bildung von Geschlechts⸗ 
tieren zwar durch die Einwirkung ungünstiger äußerer Faktoren in 
hohem Maße gehemmt werden kann, schließlich aber (anscheinend auf 
Grund chemisch-phnysiologischer Prozesse) obligatorisch wird?o). 
67) Hhertwig, Biologie S. 335 344. 
68) Hertwig s. 352 ff.; Emil Godlewski, Sortpflanzung im Tierreiche (Aultur 
der Gegenwart III 4, 18. 462—471). Erwähnt sei, daß Bataillon und Brachet sogar 
unbefruchtete Froscheier durch Einschnitte in die Rinde zur Entwicklung normaler 
Frösche brachten. Umgekehrt ist es gelungen, Cibruchstücke o hne Kern mittels 
Befruchtung mit Samen (der hier offenbar den Kern ersetzt) zur Entwicklung zu 
bringen (E. Caqueur, Entwicklungsmechanik tierischer Organismen, ebenda S. 327). 
69) Hertwig, 5. 385 f. 
70) Rich. Goldschmidt, Einführung in die Vererbungswissenschaft Kap. 20. 
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