Das Leben und seine Formen.
Wenden wir uns der theoretischen Deutung zu, welche die darge—
stellten Tatsachen gefunden haben, so gehen wir, obwohl durch die bis—
her geschilderten Arbeiten seine Theorie bereits in manchen Beziehun—
gen überholt ist, am besten von Weismannss) aus, der zuerst das Ge—
samtproblem der Vererbung durchdacht und in immer neuen Ansätzen
die fruchtbaren Anregungen der verschiedenen Theorien zu einem Ganzen
zu vereinigen versucht hat. Die Grundlage bildet die Annahme der stoff—
lichen Kontinuität des Keimplasmasse9) von der Keimzelle
der Mutter an bis zur Keimzelle der Tochter. Damit verbindet sich die
von der Spezifität der Zellen, d. h. die Annahme, daß die ver—
schiedenen Arten von Körperzellen aus ungleicher Vertei—
lung der in der Keimzelle vereinigten Anlagen (bzw. Keimchen) ent—
standen sind und darum nur ihresgleichen, nicht aber das Ganze hervor—
zubringen vermögen. Damit ist zwischen Keimplasma und Körperzell-⸗
plasma eine prinzipielle Trennung herbeigeführt und die Idee der
Kontinuität des Keimplasmas bis in die letzten Konsequenzen durch—
geführt. Auch die väterlichen und die mütterlichen Anteile des Keim⸗
xlasmas läßt W. sich (unter steter Halbierung der Masse bei jeder
neuen FSortpflanzung) als getrennte, unveränderliche Komplexe forter—
halten, bis unter nicht mehr teilbaren Anlagen das Recht der stärkeren
für ihren Fortbestand entscheidetes) (Germinalselektion). Mit der Chro—
mosomentheoriess) nimmt er ein Vererbungsmonopole') des
zellkernes an; über die Architektur der Vererbungssubstanz EOdio—
plasma) macht er Annahmen, die an Nägelis Mizellentheorie anknüpfen,
aber weit über diese hinausgehen. Alle einzelnen Zellgruppen des aus—
gebildeten Organismus sind im Idioplasma durch besondere Ein—
heiten Determinanten) vertreten, die sich aus Vertretern der einzelnen
unterschiedlichen Zelleigenschaften (sog. Biophoren) zusammensetzen, aber
auch ihrerseits zu festen, in den Chromosomen lokalisierten Verbänden
(den) vereint sind. Ein Id ist der Inbegriff aller zum Aufbau eines
Individuums erforderlichen Substanzen, es gibt aber mit Rücksicht auf
ↄ3) Aug. Weismann, Vorträge üb. Deszendenztheorie 3. A. 1913; vgl. E.
Gaupp, A. Weismann, sein Leben u. sein Werk 1917.
ↄ0) Eine solche hatte nach dem Vorgange von Owen (1849) namentlich G.
Jäger (1876) vertreten.
35) So schon Galton, Natural Inheritance 1889.
ↄ6) Die Annahme, daß jedes Chromosom (s. o. S. 441]) eine individuelle Stoff⸗
einheit ist, die sich von andern getrennt erhält, selbsttätig wächst, sich durch Teilung
vermehrt und von Selle zu Zelle in ihrer Art übertragen, wird, ist namentlich von
Boveri und Rabl ausgebildet worden, muß aber als strittig bezeichnet werden.
97) Diese Annahme ist zuerst von O. Hertwig und E. Straßburger aufgestellt.
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