Full text: Natur und Gott

450 Das Leben und seine Formen. 
ziert nichts Neues mehr. Nennen wir zur Abkürzung die in der Keim— 
zelle erhaltenen Erbfaktoren in ihrer Gesomtheit den Genotyp, den zu— 
gehörigen Organismus den Biotyp, so erweist sich der Genotypiin 
feiner geringen Veränderlichkeit und mit seinem 
riesenhaften Selbstwiederherstellungsvermögen als 
die Grundlage aller Erblichkeit. Treten unter gleichen Um— 
weltbedingungen veränderte Merkmale auf, was nur selten und in 
geringem Umfange zu geschehen pflegt, so hat sich der Genotyp geändert 
und dem entsprechen erbliche Pariationen (d. h. Mutationen) des Bio— 
typs. Dagegen sind ünderungen des Biotyps, welche äußern Bedin— 
gungen folgen (sog. Modifikationen), nicht erblich, können allerdings 
bei Konstanz der äußern Verhältnisse Erblichkeit vortäuschen (sog. Lokal⸗— 
formen). Gleichem Genotyp entspricht also nicht immer gleiche äußere 
Erscheinung des Biotyps. 5. B. blüht Primula sinensis rot, weiß aber, 
wenn sie während der sensiblen Periode bei 300 C. aufgezogen ist. Erb— 
lich ist hier offenbar nicht eine dieser Farben, sondern eine bestimmte 
Reaktionsfähigkeit auf Temperatureinflüsse. Verallgemeinern wir, wozu 
die vorliegenden Tatsachen Anlaß geben, diesen Gedanken, so werden 
wir prinzipiell nicht ent wickelte Merkmale eines Biotyps, sondern 
vielmehr Reaktionsnormen erblich, d. h. in der genotypischen Konstitu⸗ 
tion begründet nennen. Auf verschiedene Umweltverhältnisse reagiert 
der Genotyp gewissermaßen automatisch. 
Wichtigste Ergebnisse verdankt die heutige Forschung der Methode 
der Kreuzungsanalyse, auf die Gregor Mendel schon seit 1865108) hin⸗ 
gewiesen hatte, die aber erst 1900 von de Vries, Correns und Tschermak 
neu ans Licht gezogen wurde. Wählen wir zur Veranschaulichung den 
berühmten Fall der NMirabilis Jalapa; die Pflanze kommt in zwei 
reinen Linien, rot⸗ und weißblühend, vor; die aus gegenseitiger Be— 
fruchtung hervorgehende Generation zeigt die Mischfarbe rosa; die aus 
den Mischlingen hervorgehende zweite Generation zeigt ein Viertel auf 
rot, ein Diertel auf weiß zurückschlagende (und bei Vermehrung in der 
reinen Linie unveränderlich verharrende) Cxemplare, während die ver— 
bleibende rosafarbige Hälfte bei Inzucht eine neue Generation mit den 
gleichen Farb⸗ und Zahlenverhältnissen liefert. Man erklärt diese eigen— 
artige, vielfach in der Natur sich findende Dererbungsweise durch die 
Annahme, daß rote und weiße Farbe des Biotyps durch besondre, trenn⸗ 
bare und somit bei der Kreuzung frei kombinierbare Anlagen des Geno— 
typs (og. Gene) repräsentiert sind; bei genügend großer Zahl der Kreu⸗ 
nos) „Dersuche über Pflanzenhybriden“, neu herausgegeben von Tschermak 
in „Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften“ 1901.
	        
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