Das Leben und seine Formen.
verstehen. Daß diese unter gleichbleibenden Verhältnissen zu immer
stärkerer Stabilität führen muß, ist deutlich; daß sie bei Anderung der
Verhältnisse zu neuen Anpassungen führen muß, ist ebenfalls ver—⸗
ständlich. Eine Steigerung der Organisationshöhe freilich läßt sich aus
dem Fechnerschen Satze nicht herleiten. Denn die „tiefer stehenden“
organischen Formen sind, wie ihre Langlebigkeit und Stabilität zeigt,
mindestens in gleichem Grade lebensfähig wie die hochentwickelten. In
andrer Weise versucht Kassowitz die stammesgeschichtliche Entwicklung
auf chemische Ursachen zurückzuführen; er geht „auf eine Schritt für
Schritt zunehmende Komplikation der atomistischen Struktur der chemi⸗
schen Einheiten der Anlagesubstanz“ zurück. Indem er weiter annimmt,
daß in den unsichtbaren Teilen der lebenden Substanz unaufhörlich
destruktive und konstruktive Prozesse ablaufen (Metabolismus), liegt es
nahe, vorzustellen, daß Anpassungsvorrichtungen eine (vererbbare)
„Variation der atomistischen Struktur der Protoplasmamoleküle in den
funktionellen Organen“ herbeiführen. Für die Steigerung der Organi—
sationshöhe und ihr Verständnis leistet freilich auch diese Annahme nicht,
aber die zunehmende Kompliziertheit und die innere Gegensätzlichkeit
der organischen Formen wird gewiß auch in ihrem Chemismus begründet
sein. Insbesondere wird sich ohne die Annahme eigengesetzlicher chemi⸗
scher Prozesse, die, sobald sie erst einmal durch Anpassung eingeleitet
sind, sich zwangsläufig weiter entwickeln, die einseitige, ja lebenschädi—
gende Differenzierung einzelner Organe schwerlich befriedigend ver—
tehen lassen.
Auf das physiologische Gebiet führt Romanes, indem er die Ent—⸗
stehung der Arten auf entstehende Unfruchtbarkeit zweier Typen zurück
führt. In Verallgemeinerung dieses Gedankens hat Eimer „auf die
spezifische Fähigkeit der Eizelle, nur mit bestimmten Qualitäten sich zu
beladen“ hingewiesen!n1), Erinnern wir uns daran, daß man in der
Ontogenese die einzelnen Zellen der verschiedenen Organe und Gewebe
ihre Spezifität durch ungleiche Erbteilung gewinnen läßt, so können wir
in weiterer Verallgemeinerung des Gedankens von Eimer die Verschie—
denheit der organischen Entwicklung letztlich auf eine Verschiedenheit
in der Verteilung der Erbanlagen zurückführen. Zum gleichen Ergebnis
gelangen wir auf dem umgekehrten Wege, wenn wir den Ausgangs⸗
punkt der Entwicklung nicht als einheitlich (Monophyletismus), sondern
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121) Daneben zieht er den Stillstand der Entwicklung (sei es nach erfolgter
Reife des Individuums oder in einem bestimmten Embryonalstadium oder einzelner
Organe auf verschieden hoher Stufe) und die sprunghafte Entwicklung für die Ent—
stehung der Arten heran.