Das Leben und seine Formen.
man die sog. Konvergenzerscheinungen, in denen unter gleichartigen Ver—
hältnissen aus ganz verschiedenen Verwandtschaftskreisen heraus eine
Annäherung der Gestalten bis zu mehr oder minder großer Überein—
stimmung in Form und Funktion stattfindetirs), insofern anführen, als
sie die Annahme einer innern, nicht durch genealogischen Zusammen⸗
hang vermittelten, also ursprünglichen Einheitlichkeit des Organismus und
seiner Reaktionsfähigkeit nahelegen. Von der Idee der Einheit ließen
sich auch Naturphilosophen wie Schelling, Oken, Treviranus leiten,
wenn sie die Entwicklung durch einen dem Organismus einwohnenden
Drang nach Vollendung geleitet dachten, den Menschen als Urziel der
Entwicklung, die niedern Tiere aber als stehengebliebene Embryonal⸗
formen auffaßten. Daß häckels Stammbäume im Grunde von der glei—
chen naturphilosophischen Tendenz beherrscht sind, wird sich kaum be—
streiten lassen. Aber auch Pauly ist geneigt, zwar nicht den Menschen in
der besondern Form seines Daseins, wohl aber „eine so hochgradige
Potenzierung des Geistigen als Erkenntnis, Gefühlsleben und Macht—
entfaltung“, wie sie uns im Menschentum begegnet, für eine „unaus⸗
weichliche Notwendigkeit“ des natürlichen Entwicklungsvorganges zu
halten. Unter diesem Gesichtspunkt kann man die im Auftrieb der Ent—⸗
wicklung zutage tretenden Kraft als den Ausfluß eines „psychischen
Energieüberschusses“ betrachten, welcher sich in spontanen Betätigungen
äußert und, teils unter dem Zwange der Lebensbedingungen, teils frei,
aus sich selbst an seinen eignen Leistungen emporsteigt.
9. Die Tatsachen der Entwicklung, insbesondere einer Steigerung der
Organisationshöhe.
Wenden wir uns von den Theorien und Hypothesen, die wir ver—
folgten, zurück zu den Tatsachen, um sie reden zu lassen. Es sind wesent⸗
lich vergleichende Anatomie, Embryologie und Paläontologie, welche
über den wirklichen Verlauf der Stammesgeschichte und der organischen
Entwicklung Kunde geben können; die beiden ersten freilich nur mittel—
bar, sofern die Tatsachen der systematischen Verwandtschaft bzw. der
gleichartigen Ontogenese einen Schluß auf den tatsächlichen genetischen
Prozeß keineswegs erzwingen, sondern nur möglich erscheinen lassen;
aber zum Ersatz bieten sie die Möglichkeit genauester und allseitiger
Nachprüfung am Objekt selbst. Jede Umsetzung systematischer Verwandt⸗
schaft in genealogischen Zusammenhang oder wohl gar in Entwicklungs—
reihen überhaupt ausschließen wollen, wie es anscheinend Fleisch—
175) h. Friedmann, Die Uonvergenz der Organismen, 1904.