Das Leben und seine Formen.
Damit ist natürlich gegen eine weitgehende Anwendung des De—
zendenzgedanbens nichts gesagt, aber ein wirklicher Nachweis der De—
szendenz ist sehr schwierig. Die schrittweise Verfolgung der Umbildung
einer Art in eine andre ist bei dem vorhandenen Material nur selten
möglich. M. Neumanr hat in pliozänen Süßwasserschichten Slavoniens
die stetige Schmucksteigerung einer Form von Süßwasserschnecken mit
Kiemenatmung (Paludine) nachweisen können; ältere und jüngere Arten
sind hier durch allmähliche Übergänge verknüpft. Auch an Ammoniten—
Arten aus dem Jura haben Waagen und Neumanr die kleinsten zeit—
lichen Abänderungen Schicht für Schicht verfolgt und einige genealo—
gische Reihen ermittelt. Ebenso hat für die Wirbeltiere Ch. Dépéret
einige solche Reihen nachgewiesen, und von andern sind Stammesreihen
in den Familien der Sirenen, Pferde, Schweine, Kamele, Zwerghirsche,
auch einiger Wiederkäuer wenigstens wahrscheinlich gemacht. Aber
solche Reihen gibt es in sehr beschränkter Zahl; nur ganz ausnahmsweise
führen sie über den Umfang einer einzelnen Gattung hinaus und lassen
bei weiterer Verknüpfung alsbald im Stiche. Gerade die am besten be—
gründeten Reihen erweisen sich als sehr lange parallel nebeneinander
laufende Linien, die mit benachbarten keine Konvergenzpunkte zeigen;
vor Erreichung der Konvergenz scheint stets der Faden der Untersuchung
abzureißen; immer bleiben Sprünge von erheblich größerem Betrage
als zwischen den einzelnen Gliedern einer eng geschlossenen Stammes—
reihe. Dazu kommt der verwirrende Umstand, daß in den sog. Stamm⸗
formen, die den Vereinigungspunkt zweier Aste des Stammbaums dar⸗
stellen sollen, primitive Merkmale sich bereits mit solchen einer weiter—
gehenden Spezialisierung zu vermischen pflegen. Theoretisch nämlich
muß die Trennung zweier Gruppen stets zwischen ihren primitivsten
Formen stattfinden, aber solche Kombinationen primitiver Merkmale
ohne jede Spezialisiertheit sind in der Natur nicht anzutreffen. Bestehen
bleibt immerhin in allen diesen Fällen, daß, wenn auch ein genealogi⸗
scher Zusammenhang sich nicht sicherstellen läßt, doch die zeitliche Auf—
einanderfolge von realen Trägern der Entwicklung unbezweifelbar ist.
Eine genealogische Reihe aber ist nur in solchen Fällen anzunehmen,
in denen (innerhalb eines geschlossenen Stammes) alle Arten in der
Spezialisation aller Organe sich gleichsinnig verhalten, ohne daß „Spe—
zialisationskreuzungen“ (Dollo), Verbindungen primitiverer und speziali—
sierterer Formen verschiedener Organe bei einer und derselben Gruppe
vorkommen.
Eine wichtige Ergänzung dieser Betrachtungen bieten die sog. Kol—
lektivtppen d. h. Tiergruppen, welche die primitiven Eigenschaften
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