686 Naturerkenntnis u. Keligion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
Wert der Religiosität, wie auch von Naturforschern!e) zugestanden ist,
nicht in Abrede gestellt werden. Daß das nicht nur für alte Zeiten gilt,
sondern gerade auch in dem hastenden Treiben der modernen Kultur die
religiösen Feierstunden der Seele mit ihrem Besinnen auf das Eine, was
not tut, auf das, was ewigen Bestand hat, rein biologisch gesehen, sehr
nützlich sein müssen, ist leicht zu sehen.
Es ist aber vielleicht VBorurteilen gegenüber am Platze, ausdrücklich
hervorzuheben, daß die christliche Religion trotz ihrer ausgesprochenen
UÜbernatürlichkeit (wenigstens dem Prinzip nach) nichts Unnatürliches
in sich schließt oder anstrebt. Im Unterschiede vom Buddhismus, der
allerdings einen prinzipiellen, nur in der Praxis gemäßigten Bruch mit
der Natur vollzieht, aber auch zum Platonismus, der in der Materie
theoretisch ein Nichts, praktisch nur ein Hhemmnis sieht, hält das ur—⸗
sprüngliche Christentum nicht nur an dem aus dem Judentum überkom—
menen Schöpfungsglauben und damit an der prinzipiellen Vollkommen-
heit der ursprünglichen Schöpfung, einschließlich der Materie, fest, son—
dern erwartet auch die Umwandlung der gegenwärtigen Vergänglich—
keit, Unehre und Schwachheit des Fleisches in die Unvergänglichkeit,
Kraft und Herrlichkeit eines Geistleibes im Himmel. Es nimmt Regen
und Sonnenschein und fruchtbare Zeiten (die Segnungen der Naturreli—
gion) als Zeichen der Güte des himmlischen Vaters hin und läßt die
Lilien des Feldes in ihrem keuschen Schmuck, die Vögel des Himmels in
ihrem sorglosen Leben den Keichtum seiner Fürsorge verkündigen. Auch
in die zentrale Offenbarung des Göttlichen wird die Natur des Menschen
hineingezogen. Wie in den Mysterien an den jährlichen Tod und das
Auferstehen der Natur sich Ahnungen bezüglich des Menschen und seiner
ewigen Bestimmung knüpfen, so wird diese Grundfrage menschlicher Na—
tur vom Christentum beantwortet in der Verkündigung von Christi Tod
und KHuferstehung!s), und die platonische Ideenlehre wird mit der An—
erkennung der realen Naturwirklichkeit versöhnt in der Fleischwerdung
des Logos in Jesus Christus. Ganz unverkennbar ist hier die Aner—
kennung der Natur eine so runde und volle, daß sie von dem Naturalis—
mus unserer Tage nicht überboten werden kann; nur ist sie nicht als das
Ganze der gottgeschaffenen Wirklichkeit aufgefaßt, sondern als ein sehr
bescheidener Teil des Ganzen; auch gilt sie nicht als unabänderlich und
in sich vollendet, sondern der Glaube wagt von einer Herrlichkeit zu
träumen, vergleichbar den Sternen des himmels, die schon jetzt tief ver—
) Vgl. 3. B. Herm. Graf Keyserling, Unsterblichkeit. Eine Kritik 07. 3. A. 20.
ꝛ8) Zum Verständnis dieser Gedanken weise ich auf Adolf Deißmann's Paulus
(2. Aufl.'25) S. 103ff.