690 Naturerkenntnis u. Keligion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
ihrer Erkenntnisweise völlig klar gewesen, und jede genauere Analyse
bestätigt den Sachverhalt, so daß die von Schleiermacher proklamierte
Unabhängigkeit und Differenziertheit der Keligion von der Metaphysik
(wobei die nähere Bestimmung des Verhältnisses beider noch sehr ver—
schieden ausfallen kann) heute als anerkannt gelten darf.
Cher bönnte man geneigt sein, eine formale Gleichheit des reli—
giösen Beweisverfahrens mit dem in den empirischen Wissenschaften an—
gewendeten anzunehmen. Denn auch die Religion beruft sich auf „Er⸗
fahrungen und Tatsachen“; z. B. kommt für das Christentum bekannter⸗
maßen der Tatsachenkreis der Bibel, zumal die Person Jesu Christi, des
Gekreuzigten und Auferstandenen, in Betracht. Wie man auch darüber.
urteilen mag, historisch evident ist jedenfalls, daß es sich bisher nie
anders als durch diese (letztlich auf seine historische Urzeit zurückgehende)
Verkündigung fortgepflanzt hat und, um das Stichwort der HRufklärung
anzuwenden und abzulehnen, auf „zufälligen Geschichtstatsachen“ be⸗
ruht, wie in ihrer Weise alle Geschichts⸗ und Naturwissenschaft auch.
Diese Gleichheit ist freilich rein formaler Art, denn die Erfahrungen
und Tatsachen der Religion meinen etwas ganz anderes als in den empi—
rischen Wissenschaften mit diesen Worten ausgedrückt wird. Die Reli—
gion läßt nur gelten und bann nur gelten lassen den „Beweis des Gei—
stes und der Kraft“, wir könnten auch sagen den Geistesbeweis auf Grund
von (wunderbaren) Zeichen und Offenbarungen Gottes. Im Mittelpunkt
des Interesses stehen hier stets Menschen, die Gottes irgendwie inne
zu werden, die an Zeichen, die es gibt, oder auch rein innerlich, auf
Grund von Inspiration, sein Wollen und Wirken zu schauen vermögen
und Mittler und Führer zu Gott werden, indem sie Andere, dafür dispo—
nierte, durch Wort und Werk von der Tatsächlichkeit ihres Verkehrs mit
Gott überzeugen und sie zu analogem, wenn auch meist schwächerem
Schauen Gottes führen. Diesen offenkundig in allen Keligionen, von den
primitivsten bis zu den geistigsten, vorliegenden Tatbestand gilt es nun
zu analysieren, doch dürfen wir uns, da es sich nur um den Vergleich
heutiger Religion mit dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkennen
handelt, auf die noch heute als mustergültig anerkannten Formen der
religiösen Vergewisserung beschränken. Auch dürfen wir, da zweifellos
die Methode der Zeichendeutung gegenüber der der unmittelbaren Inspi—
ration die geringere und weniger bedeutsame ist, uns auf diese letztere
konzentrieren, dabei vorbehaltend, auf die Frage der „Zeichen und
Wunder“ später zurückzukommen. Aber auch die Inspiration brauchen
wir uns nicht in den mannigfaltigen Formen, die in der religiösen Ge—
schichte der Menschheit vorkommen, zu vergegenwärtigen, sondern nur