Full text: Natur und Gott

752 Abschließende Ergebnisse und letzte Fragen. 
eine mit vollendeter Sicherheit arbeitende und ebenso sicher in ihrem Me— 
chanismus erkennbare Weltmaschine, sondern ein Reich höchster geistiger 
Freiheit; in dem Selbstleben aller Kreaturen, nicht nur jedes Protisten, 
sondern jedes Atoms, von denen keines am Gängelbande geführt wird, 
alles gemäß der eignen Art sich bewegt, ist jenes höchste Siel schon 
im Wesen der Natur selbst angelegt und vorgebildet. Zugleich aber ist 
jedem Wesen den Umständen gemäß das größtmögliche Maß von Selbst— 
entfaltung vergönnt, jedes in seiner kleinen Sphäre nicht zum bloßen 
Mittel für anderes herabgewürdigt, sondern als wichtig anerkannt und 
mit Sorgfalt behandelt. Man hat es wohl als einen Vorzug der Irreli— 
gion unserer Seit betrachtet, daß sie den Menschen von jeder Bevormun— 
dung frei seinen Weg durch die Welt gehen lasseno). In Wirklichkeit ist 
die Welt so geartet, daß es niemandem erspart wird, seinen Weg selbst 
gemäß seiner eignen Entscheidung zu wählen; es ist auch niemandem 
versagt, so einsam zu werden, wie er nur will, aber wer wirklich die 
Schauer einer seelischen Vereinsamung erfahren hat, die ihm Menschen 
nicht abnehmen können, wird dankbar in dem Gottesglauben das allein 
wirksame Mittel gegen diese innere Not erfassen. 
Das letzte Moment, das wir am religiösen Weltbegriff zu betrach— 
ten haben, ist die durch die Schöpfung gesetzte Welt- und Lebensordnung. 
Durch sie bestimmt sich die Idee des rein prinzipiell gehaltenen heiligen 
Ciebeswillens Gottes durch die feste Beziehung auf die konkreten Ver— 
hältnisse der Natur und des Lebens. Man begegnet häufig dem Fehler, 
namentlich in der philosophischen Diskussion, daß der Wille Gottes in 
ganz abstrakter Weise mit dem ethischen Ideal identifiziert wird; in 
Wirklichkeit deckt sich vermöge des Schöpfungsgedankens, der auf die ge— 
samte natürliche und geschichtlich-gesellschaftliche Lebensordnung bezo— 
gen wird, der göttliche Wille mit der Gesamtheit der bestehenden natür— 
lich-sozialen Abhängigkeitsverhältnisse und der hieraus entspringenden 
sittlichen Anforderungen und begleitet so die sozialen Verbände, wie jeden 
Einzelnen, vom ersten bis zum letzten Tage ihres Daseins. So dient der 
Schöpfungsglaube dazu, der Idee des göttlichen Willens eine überaus 
konkrete, unmittelbar in der Wirklichkeit wurzelnde und sie betreffende 
Prägung zu geben. Es ist bekannt, wie diese schon in den Keligionen der 
Völker vielfach hervortretende Auffassung in der Reformation als Reak— 
tion gegen einseitige kirchliche und mystische Motive zu einem bis heute 
kräftig fortwirkenden Ferment der neueren Kulturentwicklung geworden 
ist. Darüber darf indes nicht verkannt werden, daß auf dem Boden der 
10) Paul Göhre, Der unbekannte Gott. Versuch einer Keligion des modernen 
Menschen. 19.
	        
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