772 Abschließende Ergebnisse und letzte Fragen.
Eindruck der Christusgestalt so abzuschwächen, daß ihre weltgeschichtliche
Gewalt über die Herzen unbegreiflich wird. Es ist darum voll verständlich,
daß nicht nur in den katholischen Prägungen des Christentums das Mira—
kel in das Wesen des heilsapparates und des religiösen Erlebens hin—
eingenommen ist, sondern daß auch im Protestantismus, soweit er noch
Kirche ist, der Supranaturalismus vorherrrscht, soweit er aber das freie
Christentum, d. h. den religiösen Individualismus, auf seine Fahne ge—
—
Trotz wieder die Sehnsucht erwacht, den ganzen gewaltigen Christus der
Urzeit neu in Besitz zu nehmen und sei es selbst um den Preis, ihn nicht
der Geschichte, sondern dem Mythus, der Ideendichtung, zuweisen zu
müssen.
Der Autorität der supranaturalen religiösen Tradition ist seit Jahr⸗
hunderten mit immer wachsender Kraft der Geist wissenschaftlichen Den—
kens entgegengetreten. Zwar ist in der Gegenwart ein starker Rückschlag
gegen die vermeintliche Allmacht der naturwissenschaftlichen Forschung
eingetreten; eine neue Romantik erhebt ihr Haupt, und okkultistische Ten—
denzen, bisher völlig in den Hintergrund gedrängt, treten mächtig hervor.
Es liegt in der Tat nahe, anzunehmen, daß die letzte Phase der Phnysio—
logie und Psychologie ebenso, wie es von der Physik feststeht, ein allzu
stark verkürztes Bild von der Wirklichkeit gegeben hat und die künftige
wissenschaftliche Linienführung sehr anders aussehen wird. Aber vor
einer Überschätzung der rückläufigen Bewegung muß gewarnt werden;
der heutige Skeptizismus gegenüber der wissenschaftlichen Orthodoxie
der letzten Cpoche hat doch seinen stärksten Rückhalt in der Wissenschaft
selbst, d. h. in der strengeren Durchführung der gleichen methodischen
Grundsätze, die bisher die Forschung leiteten und auf denen ihre bahn—
brechenden Erfolge allezeit beruhten. Diese Grundsätze immer mehr bis
auf die letzten Denknotwendigkeiten hin zurückzuverfolgen, alle schein—
baren Selbstverständlichkeiten immer strenger zu prüfen, evtl. auszu—
schalten, die Empirie des wissenschaftlichen Betriebes immer völliger und
konsequenter den methodischen Forderungen gemäß zu gestalten, diese Ten—
denzen werden auch in der Zukunft die der Wissenschaft sein. Religions⸗
feindlich ist, wie uns die Analyse des Gesetzesbegriffs zeigte, diese Ent—
wicklung nicht, wohl aber ist sie mit dem Wunderbegriff der Tradition,
mit der Annahme von Ereignissen, die in der Natur gegen die Ordnung
der Natur, oder doch über oder außer ihr verlaufen sollen, unverträglich.
Im Protestantismus ist in der Tat die Überwindung dieses Be—
griffs, den wir kurzerhand als den des Mirakels bezeichnen wollen, schon
in seinen Ursprüngen angebahnt. Allerdings bewegt sich das Denken der