816 Abschließende Ergebnisse und letzte Fragen.
schließen; vielmehr sind viele dieser Kranken von Hause aus religiös
gleichgültig und fallen nach Beendigung ihrer Krankheit in diesen Zu—
stand zurück. Eher wird sich das eigentümliche Phänomen der religiösen
Färbung ihrer Ideen daraus erklären lassen, daß unter allen höheren
geistigen Funktionen die religiöse die primitivste, dem Instinkt am ehe⸗
sten verwandte's) ist und daher bei einer Erschütterung des geistigen
Gleichgewichts stärker als sonst hervortrittes). Damit ist natürlich nicht
gesagt, daß nicht in geeigneten Fällen durch die schwere Heimsuchung
der Krankheit auch eine wirkliche, bleibende Vertiefung des religiösen
Lebens erfolgen kann.
Von besonderem Interesse ist die Frage, ob zwischen hochgradiger
religiösser Frregung und psychischer Störung ein Zusammenhang anzu—
nehmen sei. Nachdem Lombroso in seinem berühmten Buche über „Genie
und Wahnsinn“ die Behauptung gewagt hatte, daß alle großen schöpfe—
rischen Gestalten der Menschheit pathologisch veranlagt waren, ist das
Problem oft diskutiert worden. Sehen wir von der grellen Übertreibung
Combrosos ab, so lassen sich gewisse Analogien zwischen Genie und Wahn—
sinn allerdings aufstellen. Bei vielen Psychosen, vielleicht bei allen, fehlt
mehr oder minder der Kontakt mit der Wirklichkeit; krankhaft bestimmte
Affekte oder Wahnideen versetzen den Kranken in eine eigne Wirklich—
keit, die mit der gewöhnlichen nicht übereinstimmt und isolieren ihn. Es
läßt sich nicht verkennen, daß auch der geniale Mensch in vieler hinsicht
wirklichkeitsfremd ist und sich mit den gewöhnlichen Maßstäben nicht
erfassen läßt, wie auch er selbst die Umgebung ganz nach eignen Krite—
rien beurteilt. Er baut sich seine eigne Welt aus Affekten und Phanta—
sievorstellungen auf und auch hierin gleicht ihm der Kranke, nur daß
seine Phantasien zwar wirklichkeitsfremd, aber innerlich leer, unbedeu—
tend und nichtssagend, jene aber genial sind, d. h. den gesunden Menschen—
verstand, das Durchschnittsmaß, zwar gänzlich hinter sich lassen, aber
gleichzeitig seine Sehnsucht erfüllen und sich als höchste Gestaltung dessen,
was auch ihm unklar als Ideal verschwebt, erweisen. Am überzeugendsten
aber spricht für eine gewisse Perwandtschaft des Genialen mit dem Wahn—
sinnigen die Tatsache, daß bei beiden die Gedanken anscheinend unver—
mittelt, wie eine Eingebung, aufsteigen; der Geniale weiß ebensowenig
wie der Kranke zu sagen, woher ihm seine Gedanken plötzlich fließen,
nur daß eben diese Gedanken einen KReichtum, eine Tiefe, eine Neuartig—
keit besitzen, die denen des Kranken abgeht, und daß sie auf langer Be—
os) Diese Behauptung, die längst, namentlich in Sabatiers Religionsphilosophie,
hervorgetreten ist, verdiente eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung.
96) Schou a. a. O. S. 78.