Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

Gottesurteile 
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letzte Schrecklichste zu verhüllen, deren weibliche Neugier und Sucht 
nach Aufregung doch zugleich von diesem Grauen in allen Nerven, 
bis in die zuckende Bewegung der Fingerspitzen, aufs äußerste ge— 
prickelt werden, so daß sie kein Auge wegwendet von dem grausen 
Schauspiel. Es gibt in der Bildhauerei aller Zeiten keine vollendetere 
Darstellung seelischer Vorgänge.“1) Die Werke gehören der ersten 
Hälfte des 13. Jahrhunderts an. Wie der Lünstler sich dabei auf 
die Gestaltung seelischer Vorgänge einstellt, bilden sie die schärfste 
Verkörperung des nordischen Kunstempfindens im Gegensatz zum 
Mittelmeerländischen. Man denke als Gegensatz etwa an die „edle 
Einfalt und stille Größe“ (Winkelmann) des Flachbildes, auf dem 
der Abschied der Eurydike von Orpheus dargestellt ist Milla 
Albani in Rom; Neapel). Dort kommt der furchtbarste Schmerz 
über die erneute Trennung nur durch eine leise Wehmut der Bal— 
tung zum Ausdruck. 
Man mag diese Milderung oder Verhüllung des Leidens, des 
Schmerzlichen, künstlerisch hochschätzen. Aber jedenfalls liegt kein 
Grund vor, dem anders und leidenschaftlicher empfindenden nordi— 
schen Menschen die ihm angemessene Ausdruckskunst zugunsten der 
antikischen Darstellungskunst zu verbieten wie es der Klassizismus 
und die Geringschätzung der mittelalterlichen Kunst tatsächlich unter— 
nahm.72) 
Kirche und Geistlichkeit wirkten bei den meisten Gottesurteilen, 
geuerprobe, Kesselprobe, Probe des geweihten Bissens und so 
weiter, maßgeblich mit; in durchaus öffentlicher und amtlicher 
form, gegen bestimmte Gebühren für ihre Mühewaltung. Ab— 
gesehen davon, daß die Gottheit im Ausgang des Gottesurteils 
ihren Willen kundgab — und es daher naturgemäß Aufgabe der 
Priesterschaft war, diese göttliche Willensmeinung zu verkünden 
und durchzuführen — ist es aus dieser amtlichen Beteiligung der 
Uirche am Gottesurteile, damit also aus zwei Gründen, begreiflich, 
daß die Kirche besonderen Anteil nahm an der Sache und deshalb 
besonders lehrreich oder erbaulich scheinende Gottesurteile gern 
an Kirchengebäuden verewigen ließ. 
In der Johanniterkirche zu Wölchingen, bad. Kreis Mosbach, 
aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (nach Dehio), finden 
ꝛi) ‚Wie weit war die italienische Bildnerei hinter der des Nordens zurück- 
geblieben, als Niccolo Pisano 1260 sein erstes Hauptwerk aufstellte“; BHeinrich 
Zergner, Grundriß der Kunstgeschichte, S. 145. 
i2) Goethe war öfters in Naumburg; nirgends schreibt er in seinem Tagebuch 
etwas über diese Schöpfungen, die er doch vermutlich sich angesehen hat. Und die 
flauesten Nachbildungen von Antiken, die er in Italien zu sehen bekommt, versetzen 
hn in Entzücken.
	        
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