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Gottesurteile
von: „Deutschland, Deutschland über Alles“ in den Tod gingen, ist zweifellos ein noch
unendlich viel ergreifenderes und erhebenderes Beispiel von Heldenmut; viel ergreifender
um deswillen, weil es die höchste Auslese des höchststehenden Kulturvolks war die
ihn bewies; nicht ein junges Naturvolk. So falsch dieser Angriff und die Bildung
von Studentenregimentern überhaupt nach dem Urteil der Sachverständigen war, die
Lindruckskraft jener Tat, die gradezu religiöse Bedeutung dieses Opfersinns, ist dem
deutschen Volke unverlierbar.
Die meisten der Bildnereien von mittelalterlichen Kirchen, die
im Zusammenhang dieser Untersuchung hier herangeholt werden,
stammen aus vorgotischer Zeit. In der gotischen Zeit werden Bau—
aufgaben und Bautätigkeit endgültig der unmittelbaren Ausführung
durch Geistliche entzogen. Es bildete sich, wozu die wandernden
lamparter Steinmetzen der vergangenen Zeit vielleicht eine gewisse
Vorstufe waren, ein besonderer weltlicher Stand der Baufachleute,
die in den Bauhütten eine selbst für mittelalterliche Verhältnisse be—
sonders scharf abgeschlossene körperschaftliche Form erhalten. Diese
Zeit ist die Höhezeit der kecken Baumeister- und Bildhauerscherze;
besonders die spätere Gotik, als der deutsche Baugeist den westfrän⸗
tischen Schulzwang überwunden hatte und zur vollen Persönlichkeit
gekommen war.
Darauf ist dann freilich bald der Reif der antikischen Nachahmung, die sog.
Renaissance, gekommen; wie vorher auf die wundervolle Baublüte der Staufenzeit,
den sog. Übergangsstil, der Rauhfrost der westfränkischen Bauregeln oder der Frühgotik
gekommen war; wie später auf die Blüte des deutschen Spätbarock oder sog. Rokoko,
deren hohen künstlerischen und Persönlichkeitswert und deren tiefinnere Verwandt⸗
schaft mit der deutschen Spätgotik man erst neuerdings ganz richtig empfindet —, der
Kauhfrost der neuantikischen Bauart oder des Klassizismus gekommen ist. Dieses
deutsche Trauerspiel wird natürlich, da es derartig regelmäßig, also nahezu gesetzmäßig
auftritt, vermutlich seine innere Notwendigkeit haben, ebenso wie das Trauerspiel der
deutschen Staatsgeschichte. Die innere Notwendigkeit jenes Umfalls auf dem Gipfel
ist wahrscheinlich darin gegeben, daß in der Spätgotik, im deutschen Rokoko und wohl
auch, wenn auch nicht so ausgeprägt, in der Bauweise der ausgehenden Staufenzeit
der deutsche Subjektivismus oder die Schrankenlosigkeit im Streben nach Ichtümlichkeit
und Ausdruck an eine äußerste Grenze gekommen war, wo es nicht mehr weiter ging
und wo deshalb die Schranke durch Regel und Vorbild ihm Bedürfnis wurde. Dann
trüge das deutsche Trauerspiel des ewig sich wiederholenden staatlichen Mißlingens
eine ähnliche Gesetzlichkeit in sich. Tie innere Ursache wäre die gleiche, der deutsche
Subjektivismus, der eben auf dem staatlichen Gebiet niemals endgültig den Zwang
zur Form erfahren hat, wie ihn die umwohnenden europäischen Randvölker, Russen,
Gallier, Briten dadurch erfahren haben, daß sie mehrfach im Lauf ihrer Geschichte
von fremden Eroberern unterworfen worden sind: die Gallier von Römern, Franken;
die Briten von Römern, Sachsen, Normannen. Englische Geschichtschreiber haben
die grundlegende Besonderheit der deutschen Geschichte im Gegensatz zu der ihren und,
der französischen und die Ursache des mangelhaften staatlichen Zusammenhangs der
Deutschen darin zu erkennen geglaubt, daß die Deutschen niemals als Ganzes von
einem Eroberervolk in eine staatliche Form gezwungen worden seien wie sie selber,
aber auch die Franzosen, die Russen; diese letzteren von Warägern, später von Car—
taren: noch später, in der Zeit von Peter dem Großen bis Alexander dem Dritten,