Die heilige Kümmernis
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Der germanische Name Wilgefortis sowohl wie der alte deutsche
Sagenzug mit dem für den Geiger fallen gelassenen Goldschuh
deuten auf germanische Gedankenkreise. Und vor allem, wie schon
zu betonen war, bleibt bei der derzeitigen kirchenamtlichen Deutung
der Kümmernis — freilich eine ganz amtliche Unterlage gibt es für
diese dunkleren Heiligen eigentlich nicht — völlig unerklärt, wieso
die bärtige bekleidete Gestalt am Kreuze, wenn man sie denn als
Christus nicht mehr verstand, weil man diesen nur mit dem Lenden—
schurz bekleidet am Kreuze zu sehen gewohnt war, nun plötzlich
weiblich wurde. Dazu lag ja an sich nicht der geringste Anlaß weder
in dem Vorgang, noch in dem Bilde selbst. Also ist es immerhin
doch möglich, sogar wahrscheinlich, daß weiter zurückreichende sagen—
geschichtliche Zusammenhänge bestehen; in der Richtung, die Johann
Nepomuk Sepp vermutet; vgl. Sepp, Die Religion der alten
Deutschen und ihr Fortbestand, s. 144 und 142: Die mannweilbliche
Weltmutter, die heilige Kummernis. Warum sollte die verkleidete
Christusgestalt am Kreuz völlig unverständlich geworden sein, weil
man ihn später meist nur mit Lendenschurz darstellte. Es waren in
der Übergangszeit sicher noch zahlreichere bekleidete Heilandsge—
stalten vorhanden, und außerdem mußte doch, von den Darstellungen
des lebenden Heilands her, die bekleidete Gestalt mindestens so ver—
traut sein, daß man nicht von selber auf jene abenteuerliche Deu—
tung mit der bärtigen Königstochter geraten konnte. Diese Cegende
sieht vielmehr ganz so aus, als ob sie gedichtet sei, um die vorher
vorhandene und geglaubte Doppelgeschlechtlichkeit der Gestalt halb—
wegs zu erklären und ins Christliche hinüber zu leiten.
Nur eine sorgfältige Denkmälervergleichung wird hier, wie
schon betont, Aufklärung bringen können, nicht die schriftliche Über—
lieferung. Denn in dieser sind die Spuren vorchristlicher Einflüsse
nun ein Jahrtausend lang sorgfältig verfolgt und möglichst ver—
nichtet worden. Diese Verfolgung hat zwar auch die Denkmäler
selbst betroffen; vgl. Sepp a. a. O., s. 143, Anfeindung der Küm—
mernisbilder. Aber es scheinen doch noch, nach Sepp, Rochholz,
Bernoulli, eine ganze Reihe von Kümmernisssbildern in der alten
Form erhalten zu sein. Der Umstand, daß sie von eifrigen Geist—
lichen zeitweilig verfolgt wurden, erweist ja gerade, daß diese etwas
Vorchristliches oder Unchristliches darin sahen.
„Wir erkennen,“ schreibt Bernoulli kühn, „die gekrönte bärtige
königlich blickende Riesengestalt: wahrhaftig es ist der Donnergott
selbst . . . Seine Büften umschlingt der Stärkegürtel, in dem der
kurze Stiel des Hammers steckt. Seine Hände sind in die Eisen—
handschuhe gehüllt, er legt sie an, sobald er auszieht, die Riesen
Juna, Germanische Götter und Belden.