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Die heilige Kümmernis
niederzuschmettern. Bernoulli bringt kein Bild des Denkmals in
Oberwinterthur, woraus er diese weitgehenden Folgerungen ziehen
zu können glaubt. Ein großes Steinbild der Heiligen, dort heilige
Wilgefortis genannt findet sich in Beauvais.s82)
In LCucca erscheint er als der hl. Fredian. „In Belgien finden
sich noch heute uralte Kultstätten der Kummernus zu Brüssel,
Mecheln und bei Dieppe.“
Man hat sehr verschiedene Herleitungen des Namens Wil—
gefortis versucht; von virgo fortis; von hillige Fartz (gleich Fratz
gleich facies). In Neunburg vorm Wald (s. Bayr. Denkmäler—
werk, Oberpfalz) wird ein schönes freilich ziemlich spätes Kümmer—
aisbild aufbewahrt, mit Krone und langem Mantel; ohne Schuhe,
aber die Füße nebeneinander, nicht aufeinander genagelt. Die Er—
läuterung dazu will alle Kümmernisbilder vom sogenannten Volto
Santo in Cucca ableiten, wo sich ein altes Bild dieser Art findet
und auch die Erzählung vom Geiger. Daß alle deutschen Kümmer—
nisbilder von dem in Cucca herkommen, ist ausgeschlossen. Wenn sie
wirklich aus Welschland kämen, dann fänden sie sich besonders an
Stellen, wo der Verkehr mit dort lebhaft ist; in den Städten und
nehr im Süden; das ist aber durchaus nicht der Fall. Die Ver—
ehrung der Kümmernis findet sich vielmehr besonders gerade an
ibgeledgenen, weltfernen und kleinen Orten.
Man muß sich dazu vergegenwärtigen, daß die Kunstwissen—
schaft zunächst immer nach einer Erklärung aus mittelmeerländischen
Quellen sucht, weil diese ihr bekannter und zugänglicher sind. Anton
Springer wird geradezu unwillig gegenüber dem Regensburger
Schottentor; er mißbilligt entschieden, daß da Dinge sich finden,
die sich nicht vom Runstgelehrten rein und nett an den Fingern
abzählen lassen. Selbst Goethe gibt einer ähnlichen Stimmung
gelegentlich nach: „verbräunt Gestein, bemodert widrig, spitzbogig,
schnörkelhaftest, niedrig“. Dieses sogenannte „finstere“ Mittelalter
ist aber wirklich auch der Betrachtung wert; es war ganz sicher
künstlerisch — und übrigens in vielen anderen, besonders sozialen
Dingen — eine sehr hochstehende Zeit. Es wird nur seit über
zweihundert Jahren durch Aufklärung und Liberalismus vernach—
lässigt.
82) Sehr unzuverlässige Abbildung in dem auch sonst völlig unzulänglichen,
eigentlich nur auf sinnlich erregende Darstellungen ausgehenden französischen Buche
bon Witkowski, L'art profane à l'eglise. Abbildung einer späteren Darstellung der
gekreuzigten bärtigen Jungfrau mit Schuhen bei fF. X. Kraus, Geschichte der christ-
sichen Kunst. Bd 15.435.