Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

—194 Der Lanzenschwinger und Seelenführer 
allerhand Nebengebäuden thront“, ist eine „große vorgeschichtliche 
Gräberanlage, mit Grabkammern aus vorgekragten Steinplatten, 
festgestellt worden, die durch einen schleifenförmigen Stollen im 
Berge zugänglich gehalten war, also jedenfalls regelmäßig zu gottes⸗ 
dienstlichen Handlungen besucht wurde“ (Carl Schuchhardt, Alt— 
europa in seiner Kultur- und Stilentwicklung 5. 75). An dieser Stätte 
geht also die gottesdienstliche Weihung des Michaelsbergs viele 
Jahrhunderte vor die Entstehung der Cegende vom heiligen Michael 
zurück. 
Michael war der besondere Kriegs⸗ und Stammesheilige 
der CLangobarden. Die Hauptstätte seiner Verehrung war die 
Grotte am Berge Garganos in Unteritalien; die Grotte, die er 
sich nach der CLegende selber geweiht hatte und für die er sich darum 
die nachträgliche Weihe durch einen Bischof ausdrücklich verbat. Es 
war sein berühmtestes Heiligtum neben dem auf der Insel an der 
Küste der Normandie. Auch in der lampartischen Hauptstadt, in 
Pavia, hatte der kriegerische Erzengel, der CLanzenkämpfer, ein wich— 
tiges Heiligtum, die Michelskirche. Der reiche bildnerische Schmuck 
an der Stirnseite der Michelskirche ist noch nicht gedeutet. Er weist 
sicher vielfach nach der nordischen Heimat und ihrer einheimischen 
Götter⸗ und Heldensage. Der Geschichtsschreiber der Langobarden 
berichtet ausdrücklich von diesen, sie hätten als Hauptgott den Gott 
Gwodan verehrt. Wodan kämpft mit der Lanze und ist der jüngere 
Gott gegenüber dem alten Kampfesgott, dem Schwertgott Ziu, Sar— 
not, Er. Ziu war früher der oberste Gott, wie er ja den alten ge— 
meinindogermanischen Namen des höchsten Gottes, Zeus, Siu, trägt. 
Den CLangobarden war Wodan der höchste Gott geworden; Wodan, 
der seinen Verehrern den Sieg verschafft. Wie beim Gottesurteil ist 
der Schlachtensieg einer ursprünglichen Auffassung der Beweis des 
stärkeren himmlischen Beistandes. Sowohl der Übertritt Konstantins 
des Großen, der für die Mittelmeerwelt den Sieg des Christentums 
entschied, wie der Übertritt Chlodwigs, der für die Vordseewelt ent⸗ 
scheidend war, sind unter solchen Umständen erfolgt. So ist Michagel 
der Volksheilige der Cangobarden geworden, weil er ihnen den Sieg 
oerschafft hat in ihren unteritalischen Kämpfen. 
Wir wissen aus vielfacher Überlieferung, daß die Weisung Gre— 
gors des Großen vom Jahre 601, man solle bei der Einführung 
der neuen Ehrfurchtsform (religio) nach Möglichkeit schonend und 
erhaltend mit den alten Verehrungsformen verfahren, von den christ— 
lichen Glaubensboten befolgt wurde. Diese arbeiteten an vielen 
Stellen, wo eine alte Form der Gottesverehrung eingebürgert und 
beim Volke beliebt war, bewußt darauf hin, daß der Zusammenhang
	        
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