Der Lanzenschwinger und Seelenführer
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gewahrt blieb; daß der neue Heilige in die Rolle des vormals an
dieser Stelle verehrten Gottes hineinwuchs. Nicht nur durch die
Wahl des gleichen Orts geschah dies, sondern auch so, daß man die
bestehenden Gebräuche, soweit es anging, übernahm und nur die
Namen änderte; daß man das frühere Tieropfer zum feierlichen
Festmahl umgestaltete (vgl. oben Abschnitt 2 und unten Abschnitt 20);
daß man die besonderen Kräfte des alten Gottes oder seine besondere
hilfsbereitschaft für gewisse Notfälle auch der neuen Verehrungs—
stätte zuschrieb. Dieses Bedürfnis nach Übernahme vorhandener
Verheißungen mußte die Heiligenverehrung befördern, weil die er—
forderliche Verschiedenartigkeit nur in einer Vielheit von einzelnen
Helfern zu erreichen war. „Denn, wie der Prophet Jeremias aus
alter asiatischer Erfahrung heraus sagen konnte, ein Volk verläßt
seinen Gott nicht; es verändert bloß den Namen“ (Alexander von
Peez, Englands Rolle im nahen Orient, 1917, 5. 65). So trat der
Seelenführer und Canzenschwinger Michael vielfach an die Stelle
des Seelenführers und Canzenführers Wodan. An die Stelle des
Donnerers und Bauerngottes Donar trat der Wettermacher Petrus.
Die tölpelhaften Züge, die der Volksmund in Cied und CLegende dem
Apostelfürsten vielfach angedichtet hat, gehen sehr wahrscheinlich
darauf zurück, daß auch die germanische Göttersage in ihrer späteren
Gestalt den groben Bauerngott Donar gern etwas ins lächerliche
zieht; man denke an das Cied von Herbard in der Edda und an das
Zwiegespräch zwischen Tor und dem Fergen, in dem dieser, in dessen
Rolle Odin sich verbirgt, den bäuerisch biederen. ungeschlachten
hammerschwinger verhöhnt.
In den Gegenden Deutschlands, die von den Römern besetzt
waren, ist die Aufeinanderfolge der Gottheiten vielfach eine dreifache.
Aus dem Heiligtum des keltischen oder germanischen Gottes wird
ein Tempel des Jupiter oder Herkules; auf dessen Trümmern ent—
steht eine christliche Kirche. In den rheinischen Gegenden und süd—
lich des rhätischen Grenzwalles haben sich wahrscheinlich eine An—
zahl christlicher Kirchen während der Völkerwanderungszeit gehalten
Franz Franziß, Bayern zur Römerzeit, 5. 435; M. Fastlinger, Die
Kirchenpatrozinien in ihrer Bedeutung für Althaverns ältestes Kir—
henwesen, 1897).
An anderen Orten sind römischchristliche Gemeinden völlig
untergegangen, so daß später erst wieder ein neues und nun nicht
vom Mittelmeer her, sondern von nordischen Glaubensboten ge—
drachtes Christentum an die Stelle getreten ist.
In Worms, in Mainz, in KRöln und anderweit hat man früh—
christliche Grabsteine gefunden; sie sind lateinisch abgefaßt, tragen