3122
Sage und Sitte
Gründungszeit zurückgeht; in die ZFeit der ersten fränkischen Erobe—
rungen und der Bekehrung dieser alemannischen Cande; von der
Cappa des fränkischen Volksheiligen Martin stammt der Name und
der Begriff Kapelle.
Die Überlieferung von Heidenkirchlein, also daß diese Kapelle
oder ihre Stelle schon in der vorchristlichen Zeit eine gottesdienstliche
Stätte gewesen sei, berichtet in vielen Fällen richtig. Man
hat bisher längst nicht genug Wert gelegt auf solche bloß münd—
lichen üÜberlieferungen. Sie sind viel zuverlässiger, als man gemeinig—
lich und besonders als sich der späte Mensch der papierenen Jahr—
hunderte denkt, der ja schließlich die schriftliche Niederlegung oder
die Akten für das Leben und sogar für wichtiger als das Leben zu
halten geneigt ist. Die mündliche Überlieferung ist in frühen Zeiten
die einzige Art der Überlieferung; sie ist zunäcst Geschichte, Bericht
von Tatsächlichem; und nur unwillkürlich, durch die verschiedene
Spiegelung der Tatsachen in der Seele des Berichterstatters, dichtet
sie freilich auch wohl.
Aber in den wesentlichen Punkten ist diese Volksüberlieferung
oft fast unbegreiflich treu; unbegreiflich, wenn man bedenkt, wie
häufig eine mündliche Überlieferung im Caufe langer Jahrhunderte
weiter erzählt und neu aufgefaßt werden muß; mit allen Gefahren
der Veränderung, des Mißverständnisses, der unwillkürlich arbei—
tenden Einbildungskraft; im Caufe eines Jahrhunderts muß sie
mindestens dreimal neu in ein Gedächtnis geprägt werden, da drei
Heschlechterfolgen auf das Jahrhundert gehen.
Im Jahre 1899 wurde in der Mark Brandenburg ein großer
GBrabhügel ausgegraben, das sogenannte Königsgrab von Seddin.
Von diesem Hügel war schon früher immer die Sage gegangen, daß
in ihm ein großer Fürst begraben liege, in einem dreifachen Sarge,
einem erzenen, einem silbernen, einem goldenen. Und man fand im
Jahre 1899 tatsächlich folgendes: Ein Brandgrab mit auffallend
reichen Beigaben, also das Grab eines Fürsten; die Asche war in
einer großen Urne beigesetzt; um diese fand man noch Reste einer Holz⸗
kiste und diese wiederum war umgeben von einer sorgfältigen Setzung
von Steinplatten. Also aus der älteren Hallstattzeit, in welche man
das Grab setzt (Forrer, Reallexikon), hatte sich eine den Tatsachen
nahekommende Überlieferung von dieser Fürstenbestattung in einem
dreifachen Sarge erhalten; über einen zweimaligen Bevölkerungs—
wechsel hinaus, nämlich die Abwanderung der Semnonen, deren
Ersatz durch die Slawen und die Wiederbesetzung durch deutsche
Stämme bei der Besiedlung des Ostens. Unterstützt wurde hier die
überlieferung freilich durch das Bestehen eines weitverbreiteten