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Sage und Sitte
Dafür sind im vorstehenden einige Beispiele gebracht worden.
Grimm fährt aber an der betreffenden Stelle fort; „wo der Mythus
geschwächt ist und zerrinnen will, da wird ihm die Geschichte zur
Stütze“.
Es ist sicher, daß die Sage von Siegfried und der von ihm
befreiten Walküre Brünhild ihre älteste Wurzel hat in der Sonnen—
berehrung und ihren dichterischen Einkleidungen, der Befreiung
der Sonnenjungfrau aus der Gewalt der Winterriesen. Es ist aber
ebenso sicher, daß in der uns erhaltenen Gestalt der Sage, und zwar
auch schon in der eddischen Form, nicht nur im Nibelungenlied,
geschichtliche Vorgänge damit verschmolzen sind; der Untergang der
Burgunder durch die Hunnen, ferner Dieterich von Bern; vielleicht
auch der Streit der fränkischen Königinnen Brünhilde und Frede—
zunde (Bruinier), und die Ermordung des Sohnes des Burgunder—
königs Siegmund auf Anstiften eines Weibes (Alb. von Hofmann),
uind möglicherweise auch das Schicksal des Cheruskerhelden Ar—
ninius. Das Volk will nicht Dichtung, um dieses späte, bewußt
geschaffene und wenig lebendige Wort zu gebrauchen, sondern es
will etwas, an das es als tatsächlich glauben kann. Ist ihm der
lebendige Glaube an den Kampf der Sonne mit den Winterriesen
entschwunden, so müssen seine Seher ihm eben von seiner Geschichte
agen; denn das Volk will Wahrheit, nicht Dichtung.
In derselben Gegend des Odenwaldes, wo am Lindelbrunnen
die Sage von Siegfrieds Ermordung örtlich festgelegt ist, findet
iich der Gewannname: Burgundhart (Otto Jiriczek, Die deutsche
heldensage s. 860), Spechtshart und der Ortsname Güntherfürst.
Man hielt die Verbindung des Lindelbrunnens bei Grasellenbach
mit Siegfried bisher für Gelehrtenerfindung. Die Überlieferung
scheint aber wirklich alt zu sein. Es ist dieselbe Gegend, wo der
Name Wode noch im Volke lebendig ist (vgl. oben 5. 209).
Es wurde oben die sogenannte Thidreksaga, die norwegische
Zusammenstellung des Sagenkreises um Dieterich von Bern erwähnt,
die aus dem 13. Jahrhundert stammt, also verhältnismäßig sehr
iung ist. Waldemar Haupt, (Zur niederdeutschen Dietrichsage, 1914,
Palästra, S. 79), hat in Teilen der Thidreksaga geschichtliche Er—
eignisse wiedergefunden; aus den Kämpfen der Niedersachsen gegen
die Slawen; insbesondere die Vernichtung einer ganzen Abteilung
der Barden durch die Slawen im Jahre 1075 am Plöner See.
Dieser Zug stammt natürlich aus einer niederdeutschen, nicht aus
der ursprünglichen bayrisch-gotischen Fassung der Sage; der nordische
Verfasser der Thidreksaga berichtet ausdrücklich, daß Männer aus
Soest in Westfalen, der Stadt der Sussatier des Tacitus, ihm die
Saga erzählt hätten.