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Die heraldische Lilie
lagen und ihrer Entwicklung gebracht. Es wird Aufgabe einer
tieferen, geschichtlichen Auffassung sein, jene von verstandesklugen
Zeiten mißachteten Dinge, jene Deutungen selber, einmal zu unter—
suchen. Selbstverständlich nicht, um an sie zu glauben, aber um
diese Vorstellungen als solche, als Erscheinungen des sagenbildenden
und religiösen Volkslebens, zu untersuchen. Es muß hier eine ähn—
liche Bewegung einsetzen, wie vor einigen Jahrzehnten mit der
Volkskunde GVolkslore). Eine flache und „selbstkluge“ 161) Zeit hat die
alten Gebräuche und Vorstellungen gering geschätzt, die in den
Unterschichten des Volkstums leben und vielfach uralte Dinge er—
halten haben, ja selbst vergessene Wahrheiten bergen können; man
hat diese Vorstellungen gering geachtet in kindlichem Stolz, daß man
nicht mehr an diese Dummheiten glaube. Daß diese Vorstellungen
elbst, die Tatsache, daß sie im Volkstum lebten und zum Teil noch
leben, auch einen Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung
dilden könne und bilden müsse, wenn man die Volksseele und ihre
völkerpsychologische Entwicklung kennen lernen will, hat zuerst die
Religionsgeschichte erkannt.162)
Die dreiflammige Kerze muß ein Zeichen von hoher Weihung
gewesen sein. Es ziert die Krone und den Szepter der Könige.
„Bei Ausgestaltung des Szepters tritt die Form der Lilie hervor,
die im Mittelalter in Deutschland wie in Frankreich die herrschende
Form wird“ (Karl von Amira, Der Stab in der germanischen
Rechtssymbolik, besprochen von Richard Schröder in der Zeitschrift
der Savignystiftung, Germ. Abt., Bd. XXX). Man braucht dafür
keine Belege zu bringen, weil diese überall zutage liegen. Ich
erinnere nur an die Nachbildung der deutschen Königskrone, die
das Reliquiar mit dem Kopfe Karls des Großen im Domschatz in
Aachen auf dem Haupte trägt oder an die Steinbildnerei, die so—
ieh Verdeutschung für rationalistisch, von Goethe.
i62) Es ist scheint mir deshalb verkehrt, wenn Otto Hupp, Runen und Hakenkreuz,
alle Versuche einer Erklärung und Deutung der heraldischen Zeichen aus zeitlich weiter
zurückliegenden Formen und Vorstellungen zu erledigen glaubt durch den Binweis
darauf, daß die Wappen ja verhältnismäßig jung seien. Selbst wenn das richtig sein
sollte, ist damit doch nicht das Hineinspielen älterer und uralter Vorstellungen in diese
pätere Verwendung der Zeichen ausgeschlossen. Zwar stimme ich mit Otto Hupp überein,
daß die Lebre Guido von Lists im wesentlichen ein Spiel der Einbildungskraft ist; und
insbesondere seine genaue Deutung und Lesung der vorausgesetzten, schon nach ihrem
Vorhandensein zweifelhaften oder vielmehr meist nur von seiner Einbildungskraft
geschaffenen runischen Inschriften im Gebälk von Häusern und in Wappen. Aber
etwas ganz anderes ist es, ob nicht die alten Sinnzeichen noch weiter verwendet wurden,
wo man nun für die sich einführenden Wappen absonderliche Zeichen brauchte. Ein so
oorsichtiger Forscher wie der Deutschrechtler Hohmeyer hat micht gezweifelt, daß in den
hausmarken, die er in jahrzentelanger Arbeit aus Niederdeutschland gesammelt hat,
Kunenzeichen stecken. Ebenso in den Steinmetzzeichen; der Geheimniskrämerei der
Bauhütten mußte ein Zeichen um so lieber sein, je unverstandener es war.