350
Ausblicke
an der Spitze des Staatswesens sieht, die staatliche Entwicklung
Europas beurteilt.
Der Ausdruck Germanistik ist, wie man mit Recht gesagt,
wenig schön und hat nur den einen Vorzug, daß er nun einmal
eingebürgert ist. Man bezeichnet als Germanisten nicht nur den,
der die Entstehung der deutschen Sprache erforscht, sowie den, der
das deutsche Schrifttum zum besonderen Gegenstand seiner Be—
trachtung macht; sondern auch den, der sich mit dem deutschen
Rechtsleben und seiner Geschichte befaßt.
Auf diesem letzten Gebiet ist ja der Gegensatz besonders her—
vorgetreten, der die europäische Geistesgeschichte bewegt; nämlich
der Gegensatz zwischen der germanischen, nachchrist—
lichen, Nordseekultur einerseits, und der hellenistisch—
semitischen, vorchristlichen, Mittelmeerkultur andererseits.
Der Gegensatz findet auf keinem anderen Blatt der Kulturgeschichte
einen so deutlichen und kennzeichnenden Ausdruck als im Rechts—
leben; in dem Kampf des rsömischen Rechts mit dem deutschen
Recht; in dem Gegensatz des römischen Weltstaatsgedankens zu
dem deutschen, dem völkischen Staatsgedanken, der mehr auf die
freiwillige Einordnung der gegebenen Blutszusammenhänge von
Sippen und Stämmen, als auf die Machtausstattung einer einheit—
lichen Staatsgewalt gegründet ist. Es ist, um die Worte Hippolyte
Taines zu gebrauchen, der Gegensatz des klassischen Staatsgedankens,
d. i. eines Systems von Autoritäten, das von oben auferlegt ist, zu
dem germanischen Staatsgedanken eines Zusammenwirkens der An—
triebe, die von unten ausgehen. Dieser letztere Staatsgedanke
mußte vorwiegend auf die vorhandenen Blutszusammenhänge und
auf Gesinnung, Ehre, freiwillige Einordnung aufbauen; im Gegen—
satz zu dem Weltstaatsgedanken, dessen Bindemittel Zwang und Lohn
sind und dem die völkische Eigenart nur Hemmung ist. Auf den
Trümmern des römischen Weltreichs haben sich die europäischen
Völkerpersönlichkeiten entwickelt; auf der Grundlage der germa—
nischen Staatengründungen.
Diese grundsätzliche Verschiedenheit des staatlichen und gesell—
schaftlichen Aufbaus ist eine sehr tiefgreifende und sie führt auf
merkwürdige Ähnlichkeiten in weltgeschichtlichen Gegensätzen, die
wir heute erleben.
Jede Weltmacht, das heißt eine staatliche Ordnung, die nicht
wie die völkischen Gemeinwesen auf eine der Masse ihrer Glieder
gemeinsame Gesittungsform und Denkweise und auf den darin
liegenden gesellschaftlichen Mörtel aufbauen kann, muß die anderen
Bindemittel der gesellschaftlichen Atome um so schärfer gebrauchen.