Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

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Ausblicke 
an der Spitze des Staatswesens sieht, die staatliche Entwicklung 
Europas beurteilt. 
Der Ausdruck Germanistik ist, wie man mit Recht gesagt, 
wenig schön und hat nur den einen Vorzug, daß er nun einmal 
eingebürgert ist. Man bezeichnet als Germanisten nicht nur den, 
der die Entstehung der deutschen Sprache erforscht, sowie den, der 
das deutsche Schrifttum zum besonderen Gegenstand seiner Be— 
trachtung macht; sondern auch den, der sich mit dem deutschen 
Rechtsleben und seiner Geschichte befaßt. 
Auf diesem letzten Gebiet ist ja der Gegensatz besonders her— 
vorgetreten, der die europäische Geistesgeschichte bewegt; nämlich 
der Gegensatz zwischen der germanischen, nachchrist— 
lichen, Nordseekultur einerseits, und der hellenistisch— 
semitischen, vorchristlichen, Mittelmeerkultur andererseits. 
Der Gegensatz findet auf keinem anderen Blatt der Kulturgeschichte 
einen so deutlichen und kennzeichnenden Ausdruck als im Rechts— 
leben; in dem Kampf des rsömischen Rechts mit dem deutschen 
Recht; in dem Gegensatz des römischen Weltstaatsgedankens zu 
dem deutschen, dem völkischen Staatsgedanken, der mehr auf die 
freiwillige Einordnung der gegebenen Blutszusammenhänge von 
Sippen und Stämmen, als auf die Machtausstattung einer einheit— 
lichen Staatsgewalt gegründet ist. Es ist, um die Worte Hippolyte 
Taines zu gebrauchen, der Gegensatz des klassischen Staatsgedankens, 
d. i. eines Systems von Autoritäten, das von oben auferlegt ist, zu 
dem germanischen Staatsgedanken eines Zusammenwirkens der An— 
triebe, die von unten ausgehen. Dieser letztere Staatsgedanke 
mußte vorwiegend auf die vorhandenen Blutszusammenhänge und 
auf Gesinnung, Ehre, freiwillige Einordnung aufbauen; im Gegen— 
satz zu dem Weltstaatsgedanken, dessen Bindemittel Zwang und Lohn 
sind und dem die völkische Eigenart nur Hemmung ist. Auf den 
Trümmern des römischen Weltreichs haben sich die europäischen 
Völkerpersönlichkeiten entwickelt; auf der Grundlage der germa— 
nischen Staatengründungen. 
Diese grundsätzliche Verschiedenheit des staatlichen und gesell— 
schaftlichen Aufbaus ist eine sehr tiefgreifende und sie führt auf 
merkwürdige Ähnlichkeiten in weltgeschichtlichen Gegensätzen, die 
wir heute erleben. 
Jede Weltmacht, das heißt eine staatliche Ordnung, die nicht 
wie die völkischen Gemeinwesen auf eine der Masse ihrer Glieder 
gemeinsame Gesittungsform und Denkweise und auf den darin 
liegenden gesellschaftlichen Mörtel aufbauen kann, muß die anderen 
Bindemittel der gesellschaftlichen Atome um so schärfer gebrauchen.
	        
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