Ausblicke
356
erschienenen deutschen Kunstgeschichte hervorgehoben — und es
war wichtig, daß das einmal hervorgehoben wurde — daß der
Vertreter der Kunstgeschichte das Kunstwerk, dessen Entstehungs—
bedingung er zunächst rein geschichtswissenschaftlich zu erforschen
suche, auch auf sich wirken lasse, als künstlerischen Wert für ihn
und heute, und daß er diese Wirkung ausspreche. Dieses Ge—
schmacksurteil ist aber letztlich persönlich; d. h. es fällt nach der
einzelnen Seele und ihrer Eigenart verschieden aus, was ihr
zweckfreie Freude schafft; was ihr künstlerisch hochsteht. Ist dieses
Werturteil ichtümlich bedingt, so ist es natürlich erst recht völkisch
bedingt; wenn auch in einer nach Abstammung und Schicksalen sich
nahestehenden Menschengruppe d. h. in einem bestimmten Volkstum,
die Geschmacksäußerungen ihrer Mitglieder eine gewisse Gleich—
artigkeit und Üübereinstimmung zeigen werden.
Man hat gesagt, das nordisch⸗germanische Kunststreben sei mehr
auf das kennzeichnende oder das charakteristische gerichtet; das
südländische mehr auf das schöne. Man hat auch einen Gegensatz
zgebildet von Darstellungskunst und Ausdruckskunst und die letztere
als die germanische Form bezeichnet. Benjamin Constant, Reise
durch die deutsche Kultur, 5. 48, kennzeichnet dies einmal folgender—
mnaßen:178)
„Der Franzose sagt: sieh, wie ich die Gegenstände beschreibe,
der Deutsche, sieh welchen Eindruck die Gegenstände auf mich
machen.“
Der nordisch empfindende Künstler — wie man neuestens sagt,
der Gotiker — ringt um den Ausdruck; der so Geartete empfindet
den als den höchsten Künstler, der nicht an die spätere Wirkung
seines Werks denkt, der am restlosesten und am rücksichtslosesten
und ohne Absicht auf die anderen, auf die späteren Genießer dieser
Uunst, das zum Ausdruck gebracht hat, was ihn erfüllte;
wenn und soweit dieser subjektive Ausdruck später auf andere
wirkt; die Kraft hat, sich andern mitzuteilen und sie zu beeindrucken.
Das Streben nach dem Schönen bedeutet leicht ein Streben nach
dem, was allgemein geschätzt wird; es führt leicht zu einem Rück—
sichtnehmen des Schaffenden auf den künftigen Beschauer oder
Henießer. Jedes Denken an die spätere Wirkung des Werks birgt
in sich etwas, das die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks beeinträchtigt.
8) Benjamin Constant schreibt das im Jahre 1804. Man sieht daraus,
daß die Unterscheidung von Darstellungskunst und Ausdruckskunst keineswegs so neu
ist. Richard Benz, Die Grundlagen der deutschen Kunst, Bd.l Mittelalter 5. 88:
„Der Deutsche geht in allen seinen künstlerischen Außerungen nicht auf Darstellung
aus, wie der antike Mensch, sondern auf Ausdruck“