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Ausblicke
Stendhal einmal von einer seiner weiblichen Gestalten, wie eine
edle Natur, nicht die Meinung der andern und deren späteren
Tadel, aber eigene spätere Selbstvorwürfe.
Kultur der Sinne bedeutet für die höchste Form der antiken
Kultur, für das Hellenentum, das Streben nach künstlerischer Voll⸗
endung, nach Form; für die späte, entartete antike Kultur das
Streben nach Cebenserhaltung und Cebensgenuß des Einzelnen; un⸗
gefähr, was wir heute die schlechthin kraftstoffliche (materialistische)
Cebensauffassung nennen. Wenn man das Nibelungenlied mit
Homer vergleicht, kommt jener Gegensatz in den ganz großen Zügen
zu einem merkwürdig klaren Ausdruck. Was den Sänger der
Dichtung von Brunhild und Siegfried beschäftigt und zum Aus—
druck reizt, sind die heldischen Gewissenskämpfe, der innere Kampf
der gewaltigen Persönlichkeiten; daß Brunhild um der erlitleuen
Kränkung willen den töten muß, den sie doch so heiß liebt, daß
sie ihm dann im Tode nachfolgt; daß Kriemhild die Blutrache für
ihren Gatten an ihren Brüdern vollziehen muß. In einer älteren
Fassung, aus einer Zeit, als die Blutsbande mit den Brüdern noch
für heiliger galten als die Verbindung mit dem Gaͤtten, muß sie
umgekehrt den Mord der Brüder an ihrem zweiten Gatten, Etzel,
rächen. Der alte Hildebrand im Nibelungenliede muß die Gattin
des Königs, bei dem sein Herr und Meister zu Gast ist, erschlagen,
weil er es nicht ungerächt lassen kann, daß die edelen Recken in
wehrlosem Zustand von Weiberhand gefällt worden sind. Hagen
im Waltharilied muß nach schwerem inneren Kampf die Mannen—
treue über die Treue gegen den Waffenbruder und Genossen
Walthari setzen, nachdem durch den Tod seines Neffen von Waltharis
hand noch die Treue gegenüber der Sippe angerufen ist und nun
den Ausschlag gibt. Im alten Hildebrandslied ist der eigentliche
Hegenstand der Gewissensstreit in der Brust des alten Recken;
er weiß, daß er seinen Sohn vor sich hat als Gegner; er, der
Sohn, glaubt dem Vater die Versicherung, wer er sei, nicht und
erklärt es für eine Ausflucht des Feigen, um den Kampf zu meiden;
das reizt dann den Alten so und faßt ihn derart an seiner Ehre,
daß er kämpfen muß. In Rüdiger von Bechelaren stehen sich die
Mannentreue und die Freundestreue einander gegenüber, bis schließ⸗
lich die Mannentreue siegt und er die Freunde bekämpft. In der
Wölsungasage „setzt Signy, die Gemahlin Siggeirs, der ihr den
Vater und alle Brüder bis auf Sigmund ermordet hat, alles ein,
daß dieser überlebende Bruder die Blutsrache an ihrem Gatten
vollzieht; als dieses endlich gelungen ist und König Siggeirs Halle
in Flammen steht, weist Signy die Bitte ihres Bruders hinauszu—