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Der Untergang der alten Götter
und die Blüte macht süßen Ruch.20) Stehe auf, meine Freundin, mein
GHemahel, und komm, meine Taube, die du nistest in Steinlöchern
anter dem Heckenhollunder. Zeige mir dein Antlitz. Deine Stimme
schalle in meinen Ohren, denn deine Stimme ist süß und dein Antlitz
schön.“ Zwar setzte der Übersetzer die Worte: Stimme Christi (vox
Christi) vor diese Zeilen und die Worte: Stimme der Kirche (vox
ecclesiae) vor die Antwort der Geliebten; aber er wußte doch sicher,
wenn er die Sprache so gut verstand, daß er eine solche Verdeutschung
fertig brachte, ganz genau, wie es ursprünglich gemeint war. Selbst
wenn nachgewiesen würde, daß die Bildhauereien an der Schotten—
kirche in scholastischen Schriften einmal in jenem Sinne gedeutet
wurden, so beweist das noch lange nicht, daß sie ursprünglich vom
Künstler in dieser Meinung gestaltet waren. Solch verstiegene und
erkünstelte Deutungen mögen nachträglich an die vorhandenen Bild—
nereien sich anranken; im Gemüt eines völlig in jenen vergeistigten
GHedanken und sinnbildlichen Deutungen befangenen Geistlichen, wie
des irischen Augustinerbruders Honorius in seiner Erläuterung der
Salomonischen Dichtung.
Otfried von Weißenburg hat die Einteilung seines Evangelien—
buchs in fünf Bücher, die er selber und erst im Laufe der Arbeit,
aachträglich, vorgenommen hat, später in Beziehung gesetzt zu den
fünf Sinnen, durch welche wir die Sünde an uns heranlassen.
Die nach Sinnbildern suchende, übertragende Deutung war be—
kanntlich der mittelalterlichen Gottesgelehrsamkeit ein sehr viel ver—
wendetes Mittel, um zwischen unbequemen Stellen der heiligen
Schriften doch die Verbindung zu finden, die sie haben wollte. Papst
Gregor der Große schreibt, „daß die mosaische Religion in Sinn—
bildern das enthält, was die katholische Religion uns als Wirklich—
keit kund tut“. Die angeblichen Entsprechungen des alten Testaments
mit dem neuen und die angeblichen Weissagungen jenes auf dieses
spielen eine große Rolle im mittelalterlichen Schrifttum und in be—
sonderen Richtungen auch in der bildenden Kunst des Mittelalters.
Kirchliche Bauten waren ein beliebtes Feld solcher Sinn—
deutungen, auch noch verhältnismäßig spät. „Die Türme stellen die
Prediger dar, die die Seelen erheben sollen, das Dach die christliche
Nächstenliebe, drei Tore die heilige Dreifaltigkeit“ (D. K. Buvs-
manns, Die Geheimnisse der Gotik 5. 5).
Dafür aber, daß häufig solche Deutungen nachträglich an
das schon vorhandene Runstwerk herangebracht werden, bietet gerade
Regensburg noch ein sehr anschauliches Beispiel; die Ramwold-Urypta
zu St. Emmeran. „Wir erfahren mit Erstaunen, wie viele mystische
29) Im althochdeutschen Wortlaut heißt es: „süßen Stank“.