Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

St. Jehanns Minne 
st 
Mythologie mit der Person der heiligen Gertrud in Verbindung ge— 
stellt wurden, als Reisen und anderes, übertragen, so würde sicherlich 
dieser Minnetrunk von dem heidnischen Frühjahrsopfer nicht zu 
trennen sein“ (Ulrich Jahn, Die deutschen Opfergebräuche 5. 120). 
Die wichtigen Kalenderzeiten, die auf diese Weise verchristlicht 
und damit aus heidnischen zu christlichen Festzeiten gemacht wurden, 
wären beim warmen und beim kalten Johannistag die Sommer— 
und die Wintersonnenwende, bei Michael die herbstliche Tag- und 
Nachtgleiche, bei Martin das Erntedankfest (vgl. J. B. Albers, Das 
Jahr und seine Feste), bei Stephan eine der zwölf Weihnächte nach 
der Wiederkehr der Sonne.1) Nach Grimm wurde noch zu seiner Zeit 
alljährlich am 27. Dezember zu Otbergen bei Hildesheim der vom 
Priester geweihte Wein als Johannissegen getrunken. 
Als Mabillon 10858 die Schweiz bereiste, traf er diese Sitte in 
jedem Gasthause: „Im Augenblick der Abreise trinkt man Euch noch 
eine Gesundheit zu von St. Johannis wegen“ (E. C. Rochholz a. a. O.; 
Deutscher Glaube und Brauch im Spiegel der heidnischen Vorzeit 
5. 231). 
„Das Minnetrinken“, schreibt der gut katholische Professor Jo— 
hann Nepomuk Sepp, „ist die Kommunion der alten Deutschen“. 
„Der Kelch Christi ist von Rom den Laien vorenthalten; den alten 
Heidenkelch hat sich aber das Volk nicht nehmen lassen.“ 
Neuere religionsgeschichtliche Forschung (Albr. Dieterich) hat 
wahrscheinlich gemacht, daß in dem Brauch der katholischen Kirche, 
vie der Priester mit verhüllten Händen den Kelch hochhebt, in dessen 
Flüssigkeit der Gott selbst anwesend ist, uralte Formen der Osiris— 
verehrung aus Ägypten weiterleben. Das Bestreben, sich den Gott 
selbst körperlich einzuverleiben, um dadurch irgendwie seiner Eigen— 
schaften und seiner Stärke teilhaftig zu werden, ist nachweislich eine 
uralte vorchristliche Vorstellung, die für eine bestimmte geschichtliche 
Stufe des religiösen Empfindens kennzeichnend ist und einem Gesetze 
der völkerpsychologischen Entwicklung zu entsprechen scheint. Da 
nun nachweislich das feierliche Nehmen und Opfern eines Tranks 
⁊h) Über den etwaigen Zusammenhang der germanischen Göttin Nehalennia mit 
der hl. Gertrud von Nivelles, zwischen Brüssel und Charleroi, schreibt J. H. Albers, 
Das Jahr und seine Feste, S. 121: „Noch 1133 mußte die Geistlichkeit diesen heid— 
nischen Umzug der Nehalennia in ihrem auf Rädern ruhenden Schiff, den die Volks⸗ 
sitte und die weltliche Obrigkeit schützte, mit Eifer und harten Worten bekämpfen, 
and als es geglückt war, ihn zu unterdrücken, wurde ein altes Bild der Nehalennia 
in die Kanzel des Aachener Münsters eingelassen, damit es dort jeder predigende 
HPriester als überwundenen Rest des Heidentums mit Füßen trete“. — Mehalennia, 
die Herrin von Niflheim (2). Über die sonstigen Bräuche bei Martins- und Johannis- 
minne val. R. J. Reichhardt, Die deutschen Feste in Sitte und Brauch, 1908.
	        
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