Die chemische Konstitution
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Um derartige Entscheidungen zu treffen, bedarf es der Heranziehung
weiterer Eigenschaften, welche auch bei gleicher elementarer Zusammen-
setzung verschieden sein können. Denn nur wenn solche Verschieden-
heiten bestehen, liegt ein Anlaß vor, Schlüsse zu ziehen, welche über
die Angabe der elementaren Zusammensetzung hinausgehen.
Die erste Frage, welche daher einem gegebenen Objekt gegenüber
seitens des Chemikers gestellt wird, ist die, ob ein gleichteiliger (homo-
gener) Stoff vorliegt, oder ein Gemenge. Ist die Frage im ersten Sinne
entschieden, so entsteht die zweite, ob es sich um einen reinen Stoff
handelt, oder um eine Lösung. Ist auch diese Frage im ersten Sinne
entschieden, so tritt die Frage nach der elementaren Zusammen-
setzung auf, welche die Analyse zu beantworten gestattet. Es folgt
die Frage nach der Molargröße, über welche die eben angestellten
Betrachtungen Auskunft geben. Endlich folgt die Frage nach der
„Konstitution“ dieses reinen Stoffes von bekannter Zusammensetzung
und Molargröße. Denn da Stoffe bekannt sind, die gleiche Zusam-
mensetzung und Molargröße bei verschiedenen Eigenschaften haben,
legt notwendig noch ein weiterer Umstand vor, mit welchem derar-
tige Unterschiede zusammenhängen, und diese Verschiedenheiten faßt
man unter dem allgemeinen Namen der Konstitution zusammen.
Da‘ die Möglichkeit, Unterschiede zu erkennen, wo die Zusammen-
setzung keine aufweist, auf der Verschiedenheit der spezifischen
Eigenschaften und des chemischen Verhaltens beruht, so lie-
gen darin zwei Quellen für die Bestimmung von Konstitutionsverschie-
denheiten vor, Nun stellt die letztere eine unvergleichlich viel größere
Mannigfaltigkeit dar, als die erstere, und so haben von jeher die chemi-
schen Betrachtungen bei der Aufstellung von Konstitutionsbeziehungen
die vorwiegende Rolle gespielt. Die spezifischen (oder physikalischen)
Eigenschaften sind nur als Ergänzung und Aushilfe dazugezogen worden.
Demgemäß bilden jene chemischen Beziehungen den eigentlichen In-
halt der heutigen chemischen Lehrbücher, und die physikalischen sind
mehr der als Hilfswissenschaft aufgefaßten physikalischen Chemie zu-
geschrieben worden.
Deshalb wird an dieser Stelle eine genügende Einzelkenntnis jener
chemischen Verhältnisse vorausgesetzt, auf welche dann die physika-
lischen Mannigfaltigkeiten bezogen werden müssen. Doch liegt es in
der Natur einer solchen Untersuchung, daß dabei auch Licht auf jene
chemischen Verhältnisse fallen wird, da bei ihrer sehr großen Mannig-
faltigkeit die vereinfachende Wirkung ‚der physikalischen Beziehungen
sich als sehr nutzbringend für die Bewältigung der Aufgabe erweisen
muß, Nachstehend ist daher zunächst eine ganz kurze Übersicht der
Entwicklung gegeben worden, welche die Theorie der chemischen Ver-
bindungen im Laufe der letzten hundert Jahre (denn älter ist das
ganze Problem nicht) erfahren hat.
Theorie der chemischen Verbindungen. Die chemischen Ver-