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Stöchiometrie
wenn sie reagieren, fast immer flüssig (gelöst oder geschmolzen) sind, so
sind auch die verschiedenen Formen vorhanden, und der Stoff reagiert
je nach den Umständen mit der einen oder der anderen Form, die
sich mit von Fall zu Fall verschiedener Geschwindigkeit in dem Maße
nachbilden kann, als sie durch die Reaktion verbraucht wird. Aus
diesen einfachen Gesichtspunkten lassen sich die vorkommenden Ver-
hältnisse verstehen, doch können sie im einzelnen hier nicht erörtert
werden, da sie die Kenntnis der chemischen Dynamik voraussetzen.
Die drei Hauptfragen. Die zunehmende Verwickelung der che-
mischen Probleme, die sich bei genauerer und mannigfaltigerer Kenntnis
der Erscheinungen ergab, hat zu zahlreichen Fragen geführt, welche
sich um drei Hauptpunkte gruppieren lassen. Während die beiden
ersten von diesen zurzeit als befriedigend erledigt angesehen werden
dürfen, ist die Entwicklung bezüglich des letzten noch im vollen Fluß
begriffen.
Der erste Punkt ist die geeignete Wahl der Atom- oder Ver-
bindungsgewichte. Wir werden die verschiedenen Versuche kennen
lernen, in dieser Frage zu einer Entscheidung zu gelangen, wobei sich
ergeben wird, daß schließlich eine widerspruchsfreie Wahl hat bewerk-
stelligt werden können. N
Bezüglich der Molar- oder Molekulargewichte, die das zweite
Problem bilden, hat die Gasdichte alsbald Auskunft gegeben, nachdem
der Begriff selbst aufgestellt worden. war. Die Entwicklung hat hier weiter-
hin den Weg genommen, daß es sich als möglich erwies, den Begriff
auch auf Fälle anzuwenden, in welchen eine Untersuchung in Gas- oder
Dampfform nicht ausführbar war. Es sind ausschließlich „physikalische“
Methoden, die sich hier als hilfreich erwiesen haben, während die
„Chemischen“, auf den gegenseitigen Umwandlungen der Stoffe beruh-
snden, im allgemeinen keine eindeutige Entscheidung ermöglichen.
Umgekehrt liegt die Sache bezüglich der dritten Frage, der Kon-
stitution. Dieser Begriff ist von vornherein ein ausgeprägt chemischer
gewesen, indem man als die konstituierenden Bestandteile der Stoffe
solche ansah, deren Bestand man durch eine mehr oder weniger lange
Reihe von chemischen Umwandlungen verfolgen konnte. Waren auf
chemischem Wege solche Konstitutionsbeziehungen festgestellt, so sah
man erst später nach, ob irgendwelche besonderen physikalischen Eigen-
schaften mit jenen zusammenhängen. Erst wenn ein solches Verhältnis
an bekannten Fällen festgestellt war, entstand die Möglichkeit, es auf
unbekannte anzuwenden, wobei noch reichliche Schwierigkeiten durch
die unerledigte Grenzfrage, wie weit man nämlich die Beziehung aus-
dehnen und anwenden dürfe, einzutreten pflegten. Daher ist oben die
geschichtliche Entwicklung des Konstitutionsbegriffes vorausgeschickt
worden, denn es ist eine beständige gegenseitige Anpassung der chemi-
schen und der physikalischen Methoden und Begriffe erforderlich, um
in diesem schwierigen Felde den Weg nicht zu verlieren.