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STÖCHIOMETRIE
Lösungen ähnlichen Gesetzen gehorchen wie die Gase, Überlegt man die
ausgezeichnete Rolle, welche die Gase vermöge ihrer einfachen und allge-
meinen Eigenschaften für die Entwicklung unserer Wissenschaft gespielt
haben, wo sie einerseits die Gestaltung des Molarbegriffs, andererseits die
der Thermodynamik ermöglicht haben, so ist ersichtlich, welche Bedeutung
die Ausdehnung ihrer Gesetze auf eine weitere Klasse von Stoffen haben
muß. Gelten in der Tat die Gasgesetze in irgendeinem Sinne für die ge-
lösten Stoffe, so bedeutet dies, daß an Stelle der wenigen Stoffe, die man
im Gaszustande untersuchen kann, die zahllosen Stoffe, die sich in irgend-
szinem Lösungsmittel auflösen, der theoretischen Forschung und damit der
Vorausbestimmung ihres Verhaltens in einem .mehr oder weniger weitgehen-
den Grade zugänglich werden.
In der Tat hat die allgemeine Chemie in der wenig länger als zwei Jahr-
zehnte dauernden Zeit, die seit der Aufstellung der Theorie von van ’t Hoff
verflossen ist, gerade durch diese eine ungemein beschleunigte Fortbildung
erfahren, und die gesamte Chemie hat durch sie einen so bedeutenden Schritt
in ihrer Entwicklung zu einer von allgemeinen Prinzipien beherrschten
Wissenschaft gemacht, wie vielleicht nie vorher durch einen derartigen
Gedanken. Dadurch und durch die verhältnismäßige Neuheit dieses Fort-
schrittes rechtfertigt sich die hervortretende Stellung, die hiermit der Theorie
der verdünnten Lösungen angewiesen wird.
Der osmotische Druck. Der wichtigste Begriff, von dessen Erfassung
die Theorie der Lösungen entscheidend bestimmt worden ist, ist der des
ödsmotischen Druckes,
Wenn man über irgendeine Lösung, z. B. von Zucker im Wasser, vor-
sichtig eine Schicht reinen Wassers bringt, so bleibt das Gebilde nicht in
diesem Zustande. Ähnlich wie bei einem Gase, dessen Dichte in einem Raume
nicht überall dieselbe ist, beginnt alsbald der Zucker sich zu erheben und in
dem Wasser zu verbreiten, und die Bewegung hört erst auf, wenn sich der
Stoff in der gesamten Wassermenge gleichförmig verteilt hat.
Man kann diese Bewegung hemmen, indem man zwischen die Lösung
und das reine Lösungsmittel eine Wand bringt, welche zwar das letztere,
nicht aber den gelösten Stoff durchtreten läßt. Solche ‚„halbdurchlässige‘‘
Wände lassen sich darstellen, wenn man z. B. eine poröse Tonzelle zuerst
mit einer Lösung von Kupfersulfat tränkt, sie sorgfältig ausspült und als-
dann mit einer Lösung von Kaliumferrocyanid anfüllt. Es bildet sich als-
bald auf und in der Tonwand eine zusammenhängende Decke von Kupfer-
ferrocyanid, durch welche man Wasser filtrieren kann; filtriert man aber
eine Zuckerlösung, so erfordert dies zunächst einen viel stärkeren Druck,
und was schließlich durchtritt, ist nicht Zuckerlösung, sondern reines Wasser.
Statt des Niederschlages von Kupferferrocyanid kann man mit gleichem
Erfolge Niederschläge von anderen amorphen Stoffen, wie Eisenoxyd, gerb-
saurem Leim, Kieselsäure usw. anwenden. Das Protoplasma der organischen
Zellen pflegt gleichfalls mit einem Häutchen umkleidet zu sein, welches
vielen gelösten Stoffen gegenüber dieselbe Eigenschaft hat.