Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

DIE CHEMISCHE KONSTITUTION 257 
Siedepunkte, Die erste Regelmäßigkeit, welche zwischen der Zusammen- 
setzung chemischer Verbindungen und ihren Eigenschaften entdeckt wurde, 
bezog sich auf die Siedepunkte organischer Verbindungen. Diese wurden 
beim Aufblühen der organischen Chemie in der ersten Hälfte des neun- 
zehnten Jahrhunderts alsbald als wichtige Kennzeichen der neuentdeckten 
Stoffe benutzt und dadurch entstand bald ein ziemlich ausgiebiges Zahlen- 
material. H. Kopp bemerkte (1842) an diesem, daß gleichen Unter- 
schieden in der Zusammensetzung organischer Verbindungen 
gleiche Unterschiede der Siedetemperaturen entsprechen. So 
siedet z. B. jeder Äthylester um 19° höher, als der Methylester derselben 
Säure, und die Säure um 45° höher, als der Äthylester usw. 
Diese y/erhältnisse deuten auf ein additives Verhalten, denn jedesmal, 
wo eine Eigenschaft additiv ist, müssen die entsprechenden Differenzen 
konstant sein. Während aber Kopp gemäß den Regeln der wissenschaft- 
lichen Vorsicht seine Sätze auf das verhältnismäßig enge Gebiet des Be- 
kannten beschränkte, wurde von seinen Arbeitsgenossen das additive Schema 
in allgemeinster Form anzuwenden versucht. Diese Versuche sind alle fehl- 
geschlagen. Der entscheidende Umstand hierfür ist, daß Temperaturen 
gar keine addierbaren Größen sind, denn sie sind Stärken (S. 33) und ihre 
algebraische Summierung hat überhaupt keinen angebbaren Sinn. 
50 ist denn auch die spätere Forschung nicht erheblich über den von 
Kopp aufgestellten allgemeinen Satz hinausgekommen; vielmehr hat seine 
Geltung erheblich eingeschränkt werden müssen. Nach dem Satze müßten 
metamere Stoffe gleichen Siedepunkt haben; dies trifft nicht genau zu. 
Insbesondere hat sich ergeben, daß die zur Zeit, wo Ko PP Seinen Satz auf- 
stellte, noch nicht bekannten Konstitutionsverschiedenheiten isomerer Stoffe 
von gleicher chemischer Funktion, wie sie bei primären, sekundären und 
tertiären Alkoholen und Säuren, den sogenannten Stellungsisomeren unter 
den Benzolabkömmlingen usw. sich zeigen, jedesmal Verschiedenheiten der 
Siedepunkte bedingen. Zwar sind auch hier die Verschiedenheiten gesetz- 
mäßiger Natur, indem im allgemeinen primäre Alkohole höher sieden, als 
sekundäre, und diese höher, als die tertiären, oder in der anderen Gruppe 
die Paraverbindungen höher zu sieden pflegen, als die Ortho- und Meta- 
verbindungen. Doch sind derartige Regelmäßigkeiten noch zu beschränkten 
Charakters und nicht frei von Ausnahmen, so daß ihre Andeutung hier 
genügen muß. 
Die Chemie besitzt für die Tatsache, daß es Stoffe von gleicher Zusammen- 
setzung aber verschiedenen Eigenschaften gibt, den Ausdruck, daß deren 
Konstitution verschieden sei; deshalb sind entsprechende Verschieden- 
heiten der Eigenschaften auch als konstitutive bezeichnet worden. Ge- 
wöhnlich veranschaulicht man sich diese Verschiedenheit durch verschiedene 
Anordnung der Atome, aus denen sich der Stoff aufbaut. Da.aber diese 
Vorstellung hypothetisch ist, so muß man nach einem hypothesenfreien 
Begriff fragen, der die Tatsache ausdrückt. Diesen findet man in dem Um- 
Stande, daß ohne Ausnahme solche gleich zusammengesetzte Stoffe von 
Wi. Ostwald, Grundriß. <<. Aufl.
	        
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