DIE CHEMISCHE KONSTITUTION
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Hier tritt nun die von Pasteur entdeckte Symmetriebeziehung als Er-
Klärungsgrund und gleichzeitig als neues Postulat ein. Man muß in allen
diesen Fällen annehmen, daß eine inaktive Verbindung mit asymmetrischem
Kohlenstoff die racemische Form ist, und steht daher in jedem solchen
Falle vor der Aufgabe, eine derartige Verbindung in ihre aktiven Bestand-
teile zu spalten. Die dahin gerichtete Forschung hat ergeben, daß in der
Tat in sehr vielen Fällen die Spaltung ausführbar ist, und daß somit auch
nach dieser Richtung die Theorie Bestätigung findet.
Die Methoden der Spaltung beruhen auf zwei verschiedenen Tatsachen.
Zwar sind alle Verbindungen symmetrischer aktiver Stoffe mit inaktiven
Bestandteilen in ihren Eigenschaften völlig übereinstimmend, nicht aber
solche mit zweitem, aktivem Bestandteil. Übereinstimmend sind demgemäß
zwar alle Salze der rechten und der linken Weinsäure, die Metalle an Stelle
des Wasserstoffs enthalten; stellt man aber Salze optisch aktiver Alkaloide
her, so sind die Eigenschaften des rechten Salzes von denen des linken nicht
nur optisch, sondern auch bezüglich der Löslichkeit, des Wassergehaltes usw,
verschieden. Solche Salze lassen sich nach dem gewöhnlichen Verfahren
der getrennten teilweisen Kristallisation scheiden, und damit sind auch die
Säuren trennbar.
Das zweite Verfahren beruht darauf, daß unter gewissen Bedingungen
der Temperatur, die allerdings von Fall zu Fall besonders zu ermitteln sind,
aus den Lösungen racemischer Verbindungen die aktiven Bestandteile der-
selben getrennt auskristallisieren. Während nun zwar alle physikalischen
Eigenschaften der Kristalle, wie Farbe, Dichte, Habitus, ganz übereinstim-
mend sind, erweisen sich meist die Kristallformen als symmetrisch verschieden.
Es erscheint nämlich, während alle Kristallwinkel übereinstimmen, die An-
ordnung gewisser Flächen symmetrisch entgegengesetzt, so daß sich die
Kristalle wie Gegenstand und Spiegelbild, oder wie rechte und linke Hand
verhalten. Ist eine solche Kristallisation erfolgt, so kann man durch Aus-
lesen der rechten und linken Kristalle die beiden Formen trennen.
Ein drittes Verfahren, nach welchem durch die Lebenstätigkeit von Pilzen
oder Bakterien die eine von den beiden Formen schneller oder ausschließlich
verzehrt wird, kommt wahrscheinlich auf das erste hinaus, da das Proto-
plasma der lebenden Wesen optisch aktiv ist, und sich somit bei der Assi-
milation den beiden Formen gegenüber verschieden verhalten muß.
Die Tetraederhypothese. Zur Veranschaulichung des Zusammenhanges
zwischen dem Drehvermögen und dem asymmetrischen Kohlenstoff haben
van’t Hoff und Le Bel in ziemlich übereinstimmender Form eine Hypo-
these aufgestellt, welche eine sehr zweckmäßige und anschauliche Darstel-
lung gestattet. Sie nehmen an, daß die vier verschiedenen mit einem Kohlen-
stoffatom verbundenen Radikale an diesem geordnet sind, wie an den Ecken
eines Tetraeders. So lange mindestens zwei gleiche Radikale vorhanden
3ind, lassen sich die vier nur auf eine Weise am Tetraeder ordnen, d. h. wie
man sie auch ordnen mag, immer lassen sich zwei derartige Tetraeder durch
einfache Drehung miteinander zur Deckung bringen. Erst wenn alle vier