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bringen wolle, über unentwickelte Fähigkeiten, über zu reichliche Aufnahme
fremder Gedanken, die seine Originalität beeinträchtigt hätten. In der That
entging der sonst so wohl ausgestattete Geist schon in der jugendlichen
Haltung nicht jenem Teil Unnatur, von welchem sich ein Überbleibsel und
Nachzeichen auch äusserlich in dem schwülstigen Stil seiner römischen Ge-
schichte wiederfindet; trotz wiederholter Umarbeitung gelegentlich einer neuen
Auflage hat er denselben doch nie überwunden. So erging er sich auch mit
Vorliebe in allerlei, auf viele Jahre hinaus berechneten Arbeitsplänen, zu
deren Ausführung schwerlich menschliche Kräfte hingereicht haben würden,
und mit deren Concipierung naturgemäss die andauernde Unzufriedenheit mit
sich selbst Hand in Hand ging.
Solche intellektualistische Ausschreitung mit allerhand Sentimentalität
und mancher Querauffassung der Dinge kann hier als das andere Extrem
zum abstossenden Kultus der Materie, besonders in deren flüssiger, namentlich
in ihrer Bierform gelten, welche letztere aber zur Zeit Niebuhrs wohl nicht ganz
so stark grassierte als in unserer jüngsten Generation. Damals wenigstens
hatte man es noch nicht, wie neuerdings in besonderen Broschüren, gewagt,
diese Art Studentenmaterialität als deutsches Ideal zu feiern und zu empfehlen.
Niebuhrs äusserst konservative, um nicht zu sagen rückläufige Ge-
sinnung, vermöge deren er einige Monate nach der Julirevolution schon den
Zusammenbruch von allem fürchtete, ist eine Idiosynkrasie für sich. Übrigens
ist er keineswegs in seiner Geschichtsschreibung ein einseitiger und par-
teiischer Verherrlicher der Patrizier, sondern öfter eher das Gegenteil, aller-
dings, wie es fast den Anschein hat, zu Gunsten jener vorrepublikanischen
Urzustände, mit denen er sich am meisten und erfolgreichsten befasst hat.
Für uns liegt die interessanteste Seite von Niebuhrs Wesen in der Ver-
einigung des Geschäftsmanns mit dem Historiker. Wie sehr er selbst schon
in seinem 18. Lebensjahre ziemlich klare Vorstellungen bezüglich dieses seines
Doppelstandpunktes hatte, zeigt eine merkwürdige Briefstelle. „Mich, glaube
ich“, schreibt er an seine Eltern, „hat Natur, die individuelle Richtung
meines Geistes und meiner Fähigkeiten zum eleganten Schriftsteller, Geschichts-
schreiber neuer und alter Zeit, Staatsmann und vielleicht Weltmann be-
stimmt; obgleich letzteres, Gottlob, nur in einem uneigentlichen Sinne, und
nicht in dem schaudervollen, der gewöhnlich damit verknüpft ist.“ In dieser
Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit und äusserer praktischer Thätigkeit
findet er sein Berufsideal. Er bedauert dementsprechend auch die Existenz
eines abgesonderten gelehrten Standes. „Da verlieren wir uns aus der Welt,
aus der Thätigkeit, aus uns selbst, aus der Wirklichkeit, und kleben am
Bücherwissen.“ Bei den Alten sei das anders gewesen; damals hätte es
ebensowenig einen gelehrten Stand wie eine Beamtenklasse gegeben; dafür
lieferten sie aber Beispiele einer unerschöpflichen Kraft und Thätigkeit, wo-
von bei uns nie etwas Ähnliches zu sehen sei. — Niebuhrs jugendliche
Lebensweise gestaltete sich auch als ein Gemisch beider Antriebe, und inso-
fern er wissenschaftlich wirklich etwas geleistet hat, ist es dieser Verbindung
zu danken. Seine Kritik braucht nicht als unfehlbar angenommen zu werden
(auch ein Savigny that dies nicht), und dennoch hat Niebuhr mindestens den
Ruhm für sich, in bedeutsamer Weise zum Nichtgeltenlassen des Sagenhaften
und der antiken Geschichtskonventionen in einer neuen Form und durch
neue Materialien weiter angeregt zu haben. Selbst dieses Resultat wäre
aber undenkbar, wenn er etwa einen extravaganten Korpsburschencharakter
gehabt oder auch nur angenommen hätte. Auf solchem Boden konnten der-
artige Früchte nicht wachsen.