Full text: Sozialpädagogik

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Wirklichkeit wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen 
Drehung des Himmels um die Erde; ist aber einmal diese 
Naivität zerstört, ist die Frage nach der Wirklichkeit eine 
wissenschaftliche erst geworden, so kann auch nicht 
länger verborgen bleiben, daß die Bestimmung „Wirklichkeit“ 
dem Gesetze des erkennenden Verstandes unter- 
liegt und an ganz bestimmte erkenntnisgesetzliche Bedingungen 
gebunden ist. Diese aber schließen eine erkennbare Wirklich- 
keit des Unbedingten aus; eine theoretische Behanptung von 
Wirklichkeit, die diese Grenze nicht innehält, ist wissen- 
schaftlich unzulässig. 
Aber vielmehr ist die „Wirklichkeit“, deren die Religion 
bedarf, gar nicht im Gebiet und gemäß den Begriffen theo- 
retischer Erkenntnis zu suchen. Religion will gar nicht ver- 
mittelte Erkenntnis, sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es 
hat aber keinen Sinn, eine andre Wirklichkeit unmittelbar im 
Gefühl erleben zu wollen als die Wirklichkeit des Gefühls 
selbst. Die religiöse Vorstellung ist rechtmäßigerweise nur 
Gefühlshalt, nur Ausspruch, Buchstabe; es ist widersinnig für 
diesen Buchstaben noch eine besondere Buchstabenwahrheit 
zu verlangen, verschieden von der Wirklichkeit des Gefühls- 
erlebnisses, das darin zwar sich aussprechen möchte, aber 
sich dabei doch bewußt bleibt, sich nie wirklich aussprechen zu 
können, und im Grunde auch nicht aussprechen zu wollen. 
Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzu- 
länglichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. 
Sollte es nicht heißen mit der Innerlichkeit der Religion erst 
ganz Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik 
fordert? 
Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von Gott 
ist nun einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann man 
unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit — den 
„Geist“, den wir nur kennen als menschlichen — zur Idee 
erhoben? Weiß man auch nur ein einziges göttliches „Attribut“ 
anzugeben, das etwas andres nennt als eine menschliche Eigen- 
schaft, nur mit der an einer solchen leider unvollziehbaren 
näheren Bestimmung der Unendlichkeit, Absolutheit? Woher 
ha’ 
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