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reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kolli-
dierenden „Kinderglaubens‘; die gefahrloseste von allen. Diese
Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen
stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht
die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne
Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedankcn, in
dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt.
Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen
verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm,
wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht
vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es
ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men-
schen in einer dem Kinde durchaus faßlichen Form.
Will man etwas von dieser Bedeutung sich klar machen,
so vergegenwärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen
Madonna: in diesem weit, ins Unermeßliche blickenden Auge
liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und un-
ergründlicher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinaus-
ragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein
wundersames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind
Mensch, nach dem Höchsten, was dies Wort einschließen kann,
mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; so wie die
Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns,
nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloß
eine Mutter, sondern die Mutter, nicht bloß ein Weib,
sondern das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der
Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen
Mutter des Mensch gewordenen Gottes die Ahnung gefunden
werden, daß Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben
können, seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen
selbst.
Und so hat es wiederum auch Sinn, daß der Mensch von
Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der
den Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist,
ist der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer
künstlerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an