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Meist ist es aber Pestalozzi, an den wir denken, wenn
wir das Wort Anschauung nennen. Wie kommt das? Der
Schöpfer des Begriffes ist er nicht, denn dieser ist schon
längst vor ihm ausgebildet. Die Rolle, die er gespielt hat,
wird also eher die sein, daß er den vorher bereits vorhan-
denen Begriff in eigenartiger Weise aus- und umgestaltet
hat. Das ist auch in der Tat der Fall. Das Eigentümliche
aber ist, daß der Begriff der Anschauung, den wir heute
meinen, wenn wir von Anschauungsunterricht sprechen,
nicht der Pestalozzische Begriff ist, sondern der ältere,
dessen pädagogische Ausbildung wir wesentlich der Base-
dowschen Schule zuschreiben müssen. Wenn wir trotzdem
dabei immer Pestalozzi im Auge haben, so ist das wohl
dadurch zu erklären, daß Pestalozzi überhaupt der Genius
geworden ist, in dem sich für uns die ganze Volksbildung
verkörpert. Wir bleiben uns dabei nicht immer deutlich
bewußt, wie weit wir wirklich genau seinen Gedanken
folgen, und gerade in der Auffassung von der Eigenart
und der Bedeutung der Anschauung haben wir uns wieder
weit von ihm entfernt.
Es ist aber nicht so, als ob Pestalozzi den Begriff der
konkreten Anschauung, von dem bis jetzt allein die Rede
gewesen ist, nicht gekannt und geschätzt habe. Er stellt
ihm nur eine andere Art der Anschauung zur Seite, die
wir als abstrakte Anschauung bezeichnen können. In dieser
Verdoppelung des Anschauungsbegriffes berührt sich merk-
würdigerweise seine Auffassung so eng mit der Kants, daß
es kaum möglich ist, von dem einen Manne zu sprechen,
ohne auch den anderen zu nennen. Was wir als konkrete und
abstrakte Anschauung bezeichnet haben, unterscheidet Kant
als empirische und reine Anschauung. Die empirische
Anschauung ist für ihn gleichbedeutend mit „der Wahr-
nehmung wirklicher Gegenstände“ (Prolegomena zu einer
jeden künftigen Metaphysik usw., Riga 1783, S. 54), sie
„ist eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar von der Gegen-
wart des Gegenstandes abhängen würde“ (ebenda S. 50).
Salzmann. Pestalozzi.