Pestalozzis Anschauungskunst.
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Was Pestalozzi von Kant unterscheidet, ist, daß sein
[nteresse in der pädagogischen Aufgabe, der Ausbildung
der Anschauung beim Kinde, liegt. Kants reine Anschau-
ung und Pestalozzis Anschauungskunst oder, besser gesagt,
kunstmäßig ausgebildete Anschauung mögen im Grunde
dasselbe sein; die Allgemeinheit und Notwendigkeit der
geometrischen Sätze, worauf bei Kant die ganze Betrach-
tung beruht, wird auch von Pestalozzi energisch betont;
auch bei Pestalozzi findet sich der Hinblick auf das Ganze
aller möglichen Anschauungen. Aber während Kant nicht
daran denkt, auf die Ausbildung der geometrischen Er-
kenntnisse beim einzelnen Individuum irgendwie einzugehen,
vielmehr als selbstverständlich annimmt, daß die geometri-
schen Vorstellungen bis zu dem Bilde des allumfassenden
Raumes voll ausgebildet sind, ist das, was Pestalozzi be-
schäftigt, gerade das Werden und Wachsen der mensch-
lichen Erkenntnis. Er sucht die Anfänge der Erkenntnis
beim einzelnen Menschen, Kant aber sucht sofort die Gren-
zen, die dieser Erkenntnis überhaupt gezogen sind. So ist
die enge Verwandtschaft zwischen dem Anschauungsbe-
griffe bei Kant und Pestalozzi, die man sehr bald bemerkt
hat, verbunden mit einer völlig verschiedenen Ausbeutung
dieses Begriffes bei den beiden Männern,
Pestalozzis Zielpunkt ist die Erziehung auf einer natur-
gemäßen Grundlage, und .diese Grundlage soll die Anschau-
ung liefern, Die Anschauung tritt damit in den Mittelpunkt
seines ganzen Erziehungssystems und er gibt ihr den aller-
größten Wert. Am Schluß der Darstellung seiner Anschau-
ungslehre in der Gerfrud sagt er: „Wenn ich jetzt zu-
rücksehe und mich frage: was habe ich denn eigentlich für
dasWesen des menschlichen Unterrichtes geleistet? — so finde
ich, ich habe den höchsten, obersten Grundsatz des Unter-
richtes in der Anerkennung der Anschauung‘ als dem ab-
soluten Fundament aller Erkenntnis festgesetzt und mit Be-
seitigung aller einzelnen Lehren das Wesen der Lehre selbst
und die Urform aufzufinden gesucht, durch welche die