270 N XIIT. Die Selbsterziehung
löst sind, Sie wächst mehr aus gemachten Fehlern
als aus unseren guten Handlungen hervor. Wer
sein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit ver-
bringt, wer also jede Gelegenheit meidet zu selb-
ständiger Handlung, braucht durchaus kein
Tugendheld zu sein. Der geistige, moralische,
religiöse Hochmut, der jede Selbsterkenntnis ver-
hindert, wächst nur zu leicht da, wo kein Wider-
streit möglich ist, sei es, daß zwangsmäßig wir-
kende Einrichtungen ihn unmöglich machen, sei
es, daß jede Gelegenheit mangelt, in entspre-
chender Betätigung ein richtiges Urteil über
seine eigenen Kräfte zu erwerben. Gar mancher
war überzeugt, Felswände erklettern zu können,
der, indem er es ausführte, es mit dem Leben
büßen mußte. Zur Selbsterkenntnis ist Freiheit
und Mannigfaltigkeit des Handelns, die uns in
tausendfältige Berührung bringt mit den Dingen
und Menschen, ein unbedingtes Erfordernis.
„Wirke! Nur in seinen Werken kann der Mensch
sich selbst bemerken.“
Aber diese Freiheit und Mannigfaltigkeit ist
nur eine Grundlage, nur der Boden, auf dem die
Selbsterkenntnis wachsen kann. Was sie zunächst
zum Wachsen bringt, ist der bereits vorhin er-
wähnte Trieb nach sittlicher Wahrheit. Die Selbst-