102 Il. Abschnitt: Das sechzehnte Jahrhundert.
Zugleich erhalten wir einen interessanten Aufschluß über die eigentümliche
Auffassung von der Aufgabe und dem Lehrgebiet des mathematischen Un-
terrichts, welche aus dem damaligen Zustande der Wissenschaft und der
Abhängigkeit ihres Studiums von der Kenntnis der alten Sprachen mit
Notwendigkeit hervorging. Der überwiegende Betrieb der Sprachen, welche
in ihrer Unentbehrlichkeit für das Studium jeder Wissenschaft ihren Grund
hatte, gestattete noch keinen ausgedehnteren Betrieb der Mathematik auf
den höheren Schulen und ließ die noch ziemlich primitive Auffassung des
mathematischen Unterrichts während der ersten Periode seiner Entwick-
lung entstehen. Gleichwohl liegen in diesem Zeitraum schon die Keime für
die Weiterentwicklung dieses Unterrichts in den nächsten Jahrhunderten.
Der für seine erste Einführung entscheidende Gesichtspunkt, daß die
Mathematik durch ihre Anwendungen großen Nutzen gewährt, ruft die ein-
seitige Betonung des Nützlichkeitsprinzips während des siebzehnten Jahr-
hunderts hervor; Melanchthons tiefere Auffassung von der Bedeutung der
Mathematik für die Schulung des Geistes, die auch von Dasypodius betont
wird, gelangte im 18. Jahrhundert zum Durchbruch.
Während wir so imstande sind, über die ersten Anfänge des mathemati-
schen Unterrichts an den höheren Lehranstalten des 16. Jahrhunderts nach
Umfang und Inhalt einige erfreuliche Angaben zu machen, läßt sich über
die Pflege der Physik und der beschreibenden Naturwissenschaften an den
Schulen jener Zeit wenig Günstiges berichten. Bei dem vorher erörterten
damaligen Entwicklungszustande jener Wissenschaften, bei der Auf-
Fassung, die Melanchthon und seine Mitarbeiter von der Art und
Weise hatten, in welcher sie zu lehren seien, darf es uns nicht wunder-
nehmen, daß ein Unterricht in der Physik und den Naturwissenschaften,
wie auch in der Erdkunde so gut wie gar nicht vorhanden war. Wenn man
auch die Schulordnungen und Lehrpläne jener Zeit mit der größten Sorg-
falt durchforscht, so trifft man doch nur auf ganz vereinzelte Spuren eines
naturwissenschaftlichen Unterrichts. Dabei ist auch noch zu beachten,
daß, wenn wir auch im Lehrplan der Anordnung begegnen, es solle Geo-
graphie oder Physik gelehrt werden, damit durchaus nicht immer fest-
steht, daß tatsächlich dieser Vorschrift entsprochen worden ist. So wurde
für Köln unter Mitwirkung von Bucer und Melanchthon 1543 eine refor-
mierte Schulordnung ausgearbeitet, in der unter den sieben Lektoren aus-
drücklich ein Physicus erwähnt wird, dessen Aufgabe es sein soll, die Sum-
mula Alberti, das librum de anima und die Cosmographia des Apianus
zu lesen. Jedoch ist diese Schulordnung niemals in Wirksamkeit getreten.
Sturm gibt dem Lehrer der obersten Klasse in einem seiner Briefe die
Anweisung, die Geographie nach Mela, die Astronomie nach Proclus und
die elementa astrologiae vorzutragen, allein weder Mela noch Proclus sind
jemals tatsächlich im Unterricht behandelt worden. Was an geographi-