Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

I. Abschnitt: Altertum und Mittelalter. 
mit den Griechen Kleinasiens in Berührung kommen. Damit beginnt ein 
Volk sich ihrer zu bemächtigen, dessen außergewöhnliche Begabung es 
bald die Leistungen seiner östlichen Lehrmeister überflügeln ließ und 
das dem menschlichen Wissen auf zwei Jahrtausende hinaus das Gepräge 
seines Geistes aufgedrückt hat. 
Gleich von der Zeit an, wo nach verbürgter geschichtlicher Überlieferung 
griechische Männer ihren Forschungsgeist auf mathematischem und 
naturwissenschaftlichem Gebiet zu betätigen beginnen, bringen sie eine 
neue, abstraktere Richtung in ihre Denktätigkeit hinein. Von Anfang 
an suchen sie die Tatsachen der Erscheinungswelt in ihrem ursächlichen 
Zusammenhang zu begreifen, suchen sie das menschliche Wissen, das bis 
dahin nur eine, allerdings durchaus nicht unbedeutende Summe von aus 
der Erfahrung gewonnenen einzelnen Sätzen gebildet hatte, in ein zu- 
sammenhängendes System zu bringen, aus dem Einzelwissen eine Wissen- 
schaft zu machen. Daher hat auch M. Schmidt, um die Rolle zu kenn- 
zeichnen, die das Griechentum gegenüber dem Orient in der Entwicklungs- 
geschichte der Wissenschaften gespielt hat, den bekannten Ausspruch: 
„Ex oriente lux‘“ glücklich und bedeutungsvoll durch den Zusatz ergänzt: 
„Ex occidente lex‘‘.3) 
Am glänzendsten hat sich die wissenschaftliche Befähigung des griechi- 
schen Volkes gerade in der Mathematik gezeigt, die ja ihren Namen des- 
wegen erhalten hat, weil sie durch die Griechen zum Muster einer echten 
Wissenschaft, zur „Lehre an und für sich‘ (uad“uara) gemacht worden 
ist. Wenn man bedenkt, wie eng begrenzt das Urgebiet geometrischen 
Wissens bei den Griechen gewesen ist, daß Thales, den wir doch als den 
eigentlichen Begründer griechischer Weltweisheit ansehen müssen, von 
geometrischen Gebilden nur den rechten Winkel, das gleichschenklige 
und das gleichseitige Dreieck, die Scheitelwinkel, das Quadrat mit seinen 
Diagonalen, den Kreis und seinen Durchmesser kannte, von geometrischen 
Gesetzen nur: Das Verhältnis senkrechter Körper zu ihren Schatten ist 
zu gleichen Zeiten konstant, die Basiswinkel gleichschenkliger Dreiecke 
sind gleich, Scheitelwinkel sind einander gleich, der Durchmesser halbiert 
den Kreis, daß kaum drei Jahrhunderte nach Thales’ Tode jedoch Euklid 
schon sein großartiges Lehrgebäude der Geometrie, „Die Elemente‘, 
schuf, so muß solche Leistungsfähigkeit des griechischen Geistes unsere 
höchste Bewunderung erregen. ‚Dabei ist es nicht so sehr der Umfang 
des in den 13 Büchern der „Elemente‘“ niedergelegten geometrischen 
Wissens, dem unsere. Bewunderung gilt, sondern die vollendete wissen- 
schaftliche Darstellungsweise; die gefügige, treffsichere, einheitliche Termi- 
nologie, der festgefügte, lückenlose, harmonische Aufbau der Sätze, machen 
die „Elemente‘ für alle Zeiten zu einem Muster wissenschaftlicher Dar- 
stellung. Das geometrische Wissen Euklids geht jedoch weit über den 
10
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.