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I. Abschnitt: Altertum und Mittelalter.
mit der Zahlenlehre. Sie teilten sie in einen praktischen Teil, die Logistik,
dessen Inhalt die Rechenoperationen bildeten, und einen theoretischen
Teil, in dem sie allerdings den Zahlen auch gewisse wunderbare, geheime
Eigenschaften beilegten und so eine Zahlenmystik schufen, in dem sich
aber auch viele wichtige Begriffe und Sätze, wie die Primzahlen und teiler-
fremden Zahlen, die Summenformel für die aufeinanderfolgenden Zahlen,
die Darstellung einer Quadratzahl als die Summe der aufeinanderfolgenden
ungeraden Zahlen, sowie das arithmetische Mittel, ar? T b das geometrische
Mittel, yYab, und das harmonische Mittel, An zweier Zahlen findet.
Das letztgenannte ist das Mittelglied der sog. musikalischen Proportion,
und dies führt uns auf eine zweite Entdeckungstat des Pythagoras, die der
Abhängigkeit der Tonhöhe einer gespannten Saite von ihrer Länge und
im Anschlusse daran die Aufstellung der Intervalle Oktave, Quinte und
Quarte. Auch hier ist seine Methode. die der Induktion. Mit den Saiten-
instrumenten waren die Griechen durch die Ägypter bekannt geworden.
Pythagoras aber prüfte experimentell mit Hilfe des von ihm ersonnenen
Monochords, wie sich die Tonhöhe einer gespannten Saite mit ihrer Länge
ändert, und ergründete so die Konsonanz der Töne von Saiten, deren
Länge sich wie 1 : 2, 2 : 3, 3 : 4 verhalten, während Dicke und Spannung
dieselbe bleibt.®) Wieder also: ex oriente lux, ex occidente lex!
Auf die Pythagoreer geht auch jene Einteilung der Mathematik in die
vier Abschnitte Arithmetik, Musik, Geometrie und Sphärik zurück, die
als Quadrivium durch das ganze Mittelalter hindurch maßgebend‘ bleibt.
Die Musik war ihnen erst in zweiter Linie Kunst, in erster Linie dagegen
erörterten sie in ihr die mathematischen Tonverhältnisse. Auf diese alte
Verbindung der Musik mit der Mathematik durch die Pythagoreer ist es
also zurückzuführen, wenn bis in die neueste Zeit hinein an unseren Schulen
der „Kantor“ zugleich der Lehrer des Rechnens und der Arithmetik war.
Eine unmittelbare Folge der Kenntnis des pythagoreischen Lehrsatzes
ist auch das Bekanntwerden mit irrationalen Größen. Schon die Pythago-
reer wußten, daß Quadratwurzeln, wie Y3, V5 und ähnliche, sich nicht
in ganzen Zahlen und Brüchen ausdrücken lassen, wenn sie dies auch noch
nicht allgemein zu beweisen wußten, sondern solche Größen von Fall zu
Fall behandelten. Der Gegensatz zwischen rationalen und irrationalen
Zahlen wurde in ihrer Schule zu einem besonderen Lehrgegenstand, und
damit begründeten sie eine Lehre, zu der wir bei den Chaldäern und Ägyp-
tern nicht einmal die ersten Keime finden.
Zum geometrischen Wissensschatze der Pythagoreer gehören außer
jenem berühmten Lehrsatz ihres Meisters der Satz von der Winkelsumme
im Dreieck, für dessen Beweis sie sich der durch eine Ecke zur gegen-