Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

JI. Kapitel: Unterricht unter dem Einfluß der staatlichen Verfügungen. 269 
die Männer, denen die Gestaltung des höheren Schulwesens obliegt, als 
zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die deutschen Staaten, an 
ihrer Spitze Preußen, daran gehen, ihr höheres Schulwesen durch bestimmte 
Vorschriften in feste Formen zu bringen. Dadurch gewinnt der Neu- 
humanismus einen so nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung des 
höheren Schulunterrichts, daß er noch bis in das folgende Jahrhundert 
hinein zu spüren ist und man daher im Hinblick auf die Geschichte des 
höheren Schulwesens von einem „philologischen‘“ Jahrhundert sprechen 
darf. 
Die in Preußen mit der Errichtung des Oberschulkollegiums 1787 und 
den beiden Edikten über die Anstellung der Lehrer auf Grund einer 
vorherigen Prüfung und die Einführung des Abiturientenexamens (1788) 
einsetzenden Bestrebungen, den Unterricht an den höheren Schulen durch 
staatliche Vorschriften zu regulieren, geraten auf zwei Jahrzehnte ins 
Stocken. Die französische Revolution, die ihr folgenden ünablässigen 
Kriege, die beispiellose Laufbahn Napoleons I. halten die Aufmerksam- 
keit gefesselt und drängen die Sorgen für das Unterrichtswesen in den 
Hintergrund. Da rufen die schweren Schicksalsschläge der Jahre 1806 
und 1807, die den preußischen Staat in seinen Grundfesten erschüttern, ja 
seine ganze Existenz in Frage stellen, alle geistigen und sittlichen Kräfte 
des preußischen Volkes wach. Die begeisterten Wortführer des Neuhumanis- 
mus erheben ihre Stimme und weisen auf die Notwendigkeit einer Wieder- 
geburt des preußischen Volkes durch eine gänzlich andere Jugenderziehung 
hin. Das Verderben des Vaterlandes sei „die Folge der inneren Ohnmacht 
des Alten, der Aufklärung, der Nützlichkeitsphilosophie und des Fran- 
zosentums‘. Ihre Ansicht dringt durch. Gerade in den Tagen der tiefsten 
Demütigung Preußens wird das Werk der Reorganisation des höheren 
Schulwesens mit der größten Energie in die Hand genommen, und als 
1808 behufs Durchführung der Reform das Oberschulkollegium aufgelöst 
und die dritte Abteilung des Ministeriums des Innern mit der Oberauf- 
sicht über das höhere Schulwesen betraut wird, beruft der König Wilhelm 
von Humboldt an die Spitze derselben. Damit wird eine Persönlichkeit 
Dezernent für das höhere Schulwesen, die, auf der höchsten Bildungsstufe 
der damaligen Zeit stehend, ganz von neuhumanistischem Geiste beseelt, 
das neuhumanistische Bildungsideal: die allseitige, harmonische Aus- 
bildung sämtlicher Fähigkeiten des Körpers wie der Seele zu griechi- 
scher Kraft und Schönheit der neuen preußischen Gymnasialverfassung 
zugrunde legt. 
Welche Aufgabe für die Erreichung dieses Bildungsideales der Mathe- 
matik und den Naturwissenschaften innerhalb des Unterrichts zuzuweisen 
ist, darüber hat sich W. v. Humboldt nirgends ausgesprochen. Er stand 
in allen Unterrichts- und Erziehungsfragen auf demselben Boden wie
	        
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