Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

270 V. Abschnitt: Das neunzehnte Jahrhundert. 
Herder (1744—1803), mit dem er, wie mit Goethe und Schiller, befreundet 
war. Herder hat zwar in seinen Schriften „Zum Unterricht am Weimarer 
Gymnasium“‘,$%) die er als Ephorus dieser Anstalt verfaßte, einige Be- 
merkungen über den Betrieb der Arithmetik und der Geometrie gemacht, 
nirgends aber sich über die Bedeutung und Aufgabe des mathematischen 
und naturwissenschaftlichen Unterrichts im Zusammenhang mit den 
übrigen Lehrfächern ausführlich geäußert. Ihn, wie Humboldt, leitete 
der allgemeine Gesichtspunkt, daß edle Menschenbildung das Ziel der 
Schule sei, und da sei es „einerlei, ob man an Griechen oder an Römern, 
an der Theologie oder an der Mathematik denken gelernt hat, d. h. seinen 
Verstand und sein Urteil, sein Gedächtnis und seinen Vortrag ausgebildet 
hat, alles gleichviel, wenn sie nur ausgebildet sind‘. Humboldts Ratgeber 
für alle Schulangelegenheiten waren F. A. Wolf, der „heros eponymos“ 
der Philologie, und Süvern (1775—1829), und die einzige gesetzgebe- 
rische Maßnahme über das höhere Schulwesen, die Humboldt selbst als 
Leiter der Unterrichtsverwaltung während der anderthalb Jahre seiner 
Wirksamkeit getroffen hat, das Edikt vom 12. Juli 1810, betreffend die 
Einführung einer allgemeinen Prüfung der Schulamtskandidaten, ist als 
die erste schöpferische Tat des Neuhumanismus anzusehen. Durch dieses 
Edikt wird der vierte akademische Stand, der des „Philologen‘“ oder 
nach der heutigen Bezeichnung der Oberlehrerstand, ins Leben gerufen, 
der jedoch seine Anerkennung den Theologen, Juristen und Medizinern 
erst in hundertjährigem Kampfe abringen muß. 
Unwillkürlich erinnert die Rolle, die der Neuhumanismus zu Anfang 
des 18. Jahrhunderts in der Geschichte unseres höheren Schulwesens spielt, 
an die Wirksamkeit des alten Humanismus dreihundert Jahre vorher. 
Wie damals die Universitätsreform, so charakterisiert sich jetzt die Schul- 
reform als ein Sieg der Jungen über die Alten. Wie damals durch den 
Humanismus die Wissenschaft säkularisiert wurde, so säkularisiert gleich- 
sam jetzt der Neuhumanismus die Philologie, indem er sie aus dem un- 
würdigen Zustand einer „ancilla theologiae‘‘ erlöst und zu einer selbstän- 
digen Wissenschaft macht. Wie damals der Stand der Universitätslehrer 
3äkularisiert wurde, so säkularisiert der Neuhumanismus das Lehramt 
an den höheren Schulen, indem nicht mehr das theologische Amtsexamen, 
sondern eine besondere Lehramtsprüfung zum Erteilen von Unterricht 
an den höheren Schulen berechtigt. In anderer Form wiederholt sich 
also dieselbe Erscheinung, so daß die Bezeichnung Neuhumanismus in 
weit tieferem Sinne gerechtfertigt ist, als man gewöhnlich mit diesem 
Worte verbindet. 
Während W. v. Humboldt sein Amt als Leiter der Unterrichtsver- 
waltung schon früh niederlegt, führen seine beiden Berater Wolf und Süvern 
das Werk der Unterrichtsreform in seinem Sinne weiter, und so bleiben
	        
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