316 V. Abschnitt: Das neunzehnte Jahrhundert.
Verlauf einer Physikstunde geschildert wird, oder aus denen wir entnehmen
können, welchen Einfluß der Physikunterricht auf die geistige Ausbildung
bedeutender Männer gehabt hat. Vergeblich durchforschen wir die Bio-
graphien oder Lebenserinnerungen nach Anhaltspunkten. In Leopold Rankes
Rückerinnerungen an Schulpforta finden wir nur den kurzen Satz: „Schade,
daß für die Physik zunächst bei dem Mangel aller mathematischen Vor-
kenntnisse noch gar nicht gewirkt werden konnte.“ Wiese erwähnt in
seinen Lebenserinnerungen, die doch ziemlich eingehend über seine Schul-
zeit unter Spilleke berichten, den Physikunterricht gar nicht. Sogar Werner
V. Siemens weiß in seinen Lebenserinnerungen von einem Physikunterricht
auf dem Katharineum zu Lübeck, das er 1834 verließ, nichts zu berichten.
Wenn dieses Unterrichtsfach schon ein wichtiger Faktor in der geistigen
Ausbildung gewesen wäre, so müßte sich doch in den Lebenserinnerungen
großer Männer ein greifbarer Niederschlag in irgendeiner Form vorfinden.
Für viele Gymnasien mag wohl in jener Zeit das Bild von dem Physik-
unterricht passen, das Paulsen von diesem Unterricht am Christianeum
in Altona in den Jahren 1863—66 entwirft!®): „Das Experiment in der
Physik stand nicht am Eingang, die Erscheinung dem Schüler vor die
Augen bringend, sondern kam hinterher als eine im Grunde überflüssige
Bestätigung der Theorie: alle vier oder sechs Wochen versammelte sich
die Klasse in der Aula, angeblich um Experimente zu sehen, die übrigens
vielfach nicht gerieten, tatsächlich, um in dem ungewohnten und größeren
Raum neuen und größeren Unfug zu machen.“
Wenn unter den Männern, die für die praktische Gestaltung des Mathe-
matikunterrichts von hoher Bedeutung geworden sind, Herbart einen
Ehrenplatz einnimmt, so ist dies für den Physikunterricht nicht der Fall.
Herbart gehört zu den Naturphilosophen, und wenn er auch der be-
sonnenste und tüchtigste Philosoph dieser Richtung genannt zu werden
verdient, der die Schwächen und Fehler bei Schelling und Fries mit scharfem
Auge erkennt und die philosophischen Hirngespinste eines Steffens scharf
geißelt, so verfällt er selbst oft genug in den Fehler, den er bei anderen
tadelt. Obwohl er selbst eifrig experimentiert, z. B. auf elektrischem Ge-
biet viele sorgfältige Versuche macht 106), um Klarheit über gewisse elek-
irische Erscheinungen zu gewinnen, so hat er doch im Grunde dieselbe
Geistesrichtung. Die feststehenden einfachen Erfahrungen der Physik „über-
denkt er nach einfachen Grundsätzen‘, und er ist von der Untrüglichkeit
seiner Methode so überzeugt, daß er die so gewonnenen Ergebnisse unbe-
denklich als den realen Verhältnissen entsprechend hinstellt. So macht er
gleichsam seinen Geist zum Herrn der realen Erscheinungswelt, und wenn er
auch seine Grundsätze des Denkens so streng und folgerichtig als nur irgend
möglich anwendet, so gelangt er doch in seiner „Synthetischen‘‘ und „ana-
(ytischen‘‘ Untersuchung der „Naturlehre‘“ zu den gewagtesten Schlüssen