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Schlußbetrachtung.
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Angesichts der Unmöglichkeit, die Durchführung der Meraner Lehr-
pläne mit dem altsprachlichen Lehrbetrieb der Gymnasien zu Vereinen,
begnügen sich die Vorkämpfer der Schulreform damit, auf diesen „argen
Mißstand‘“ hinzuweisen und „die klaffende Lücke‘ in der naturwissen-
schaftlichen Gymnasialbildung nachdrücklich zu betonen. Sie sprechen
ferner den Wunsch aus, daß in höherem Maße als bisher geschehen, Mathe-
matiker und Naturwissenschaftler zur Leitung der Schulen wie in die
oberen Schulbehörden berufen werden. Was im vorigen Grundsatz noch
nicht so klar erkennbar ist, findet in dem letzten Satze mit voller
Deutlichkeit seinen Ausdruck, daß es sich nämlich in letzter Linie
auch um eine soziale Machtfrage handelt, daß in der Schulreform sich
ein im öffentlichen und sozialen Leben vollziehender Kampf wider-
spiegelt.
Ein Hauptargument. der Vertreter der Reformbestrebungen ist endlich,
daß sie das in ihren Lehrplänen dargebotene Maß von naturwissenschaft-
licher Bildung als für ein volles, auf sicherer Grundlage ruhendes Ver-
ständnis des modernen Lebens unerläßlich bezeichnen, was auch von jedem
einsichtigen Humanisten unzweifelhaft zugestanden werden muß. Mit
jenem Satze wird aber die Aufgabe der höheren Schulen dahin formuliert,
daß sie in ihren Zöglingen.das Verständnis des Kulturlebens der Gegenwart
heranbilden sollen, und damit schiebt sich unverkennbar an die Stelle "des
neuhumanistischen Bildungsideals ein, mehr.naturwissenschaftliches. Schon
wird von übereifrigen Vertretern der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Bildung immer lauter und kategorischer die Ansicht geäußert, daß das
neuhumanistische Bildungsideal einem veralteten Standpunkt entspreche,
daß die sprachlich-historischen Bildungselemente gegenüber den Anforde-
rungereer--heutigen Kultur und "den Aufgaben des sozialen und wirt-
schaftlichen Lebens wertlos sind. Angesichts dieser Entwertung der huma-
nistischen Bildungselemente unserer Gymnasien muß jedoch darauf hin-
gewiesen werden, daß die großen Förderer der Naturwissenschaften im
19. Jahrhundert fast ausnahmslos doch ihre Bildung den Gymnasien ver-
danken. Gerade der Zeit, in welcher Johannes Schulze all seine Arbeits-
kraft für die Verkörperung des neuhumanistischen Bildungsideals einsetzt,
die Gymnasien unangefochten sich noch allein der staatlichen Anerkennung
erfreuen, verdankt Helmholtz seine Ausbildung. Niemals ist diesem in
seinem späteren Leben auch nur im entferntesten der Gedanke gekommen,
daß das Erlernen der alten Sprachen ihm ein Hemmnis für seine Laufbahn
als Naturforscher gewesen ist; stets hat er seine sprachlich-historische
Bildung als den schönsten geistigen Schmuck betrachtet, ja mehr noch,
sie als die Quelle der ethischen Kraft angesehen, die gerade bei der Durch-
führung naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit in besonders hohem
Maße nötig ist. Von dieser Arbeit findet er in der Beschäftigung mit